Medizin

Wie künftige Pandemien verhindert werden könnten

  • Dienstag, 11. Oktober 2022
/Design Cells, stock.adobe.com
/Design Cells, stock.adobe.com

Boston – Unabhängig davon, ob SARS-CoV-2 durch einen Laborunfall entstanden ist – was eine unbewiesene Hypothese ist – oder auf natürliche Weise – wovon die Mehrzahl der Forscher ausgeht –, steht fest, dass COVID-19 nicht die erste Pandemie ist, die ein RNA-Virus ausgelöst hat.

Nach Ansicht einer „Independent Task Force on COVID-19 and other Pandemics“ ist es auch nicht das letzte Mal, dass RNA-Viren aus dem Tierreich auf den Menschen übertreten werden. In den Proceedings of the Natio­nal Academy of Sciences (PNAS 2022; DOI: 10.1073/pnas.2202871119) machen die Forscher Vorschläge, wie neue Pandemien rechtzeitig erkannt werden könnten.

Die Liste der RNA-Viren, die von Tieren auf den Menschen übertragen („spillover“) wurden und dann welt­weite Epidemien verursacht haben, ist lang. Am bekanntesten sind die Influenza-Viren, die 1918, 1957, 1968 und zuletzt 2009 weltweite Erkrankungswellen ausgelöst haben.

Auch HIV, das erstmals 1981 entdeckt wurde, gehört zu den RNA-Viren, ebenso die 3 neuen Coronaviren (SARS-CoV, MERS-CoV und SARS-CoV-2) sowie das Marburg-, Lassa-, Ebola-, Sin Nombre-, Hendra-, Nipah- und Zika-Virus. In vielen Fällen sind Jahrzehnte vergangen, bis die Herkunft der Viren im Tierreich identifiziert werden konnte. Es ist deshalb nicht ungewöhnlich, dass die Herkunft von SARS-CoV-2 bisher nicht geklärt werden konnte.

Sicher ist, dass SARS-CoV, MERS-CoV und SARS-CoV-2 nicht die ersten pandemischen Coronaviren sind: 4 andere Coronaviren sind weltweit für heute harmlose Erkältungskrankheiten verantwortlich. Ob dies immer so war, ist unklar. In sogenannten MRCA-Analysen („Most Recent Common Ancestor“) wird aus den geneti­schen Variationen der derzeit kursierenden Viren und einer angenommenen Mutationsgeschwindigkeit auf den letzten gemeinsamen Vorfahren geschlossen, der mit einem „Spillover“ zum Menschen gelangte.

Bei HCoV-NL63 könnte dies zwischen 1218 und 1518 der Fall gewesen sein. HCoV-229E könnte zwischen 1718 und 1818 entstanden sein. Das „Geburtsjahr“ von HCoV-OC43 wird für 1898 angenommen. Das erst 2004 entdeckte HKU—1 könnte bereits um 1400 entstanden sein. Ob diese „Spillover“ jeweils zu schweren Krankheitswellen führten, lässt sich heute wohl nicht mehr klären.

Weitere Coronaviren mit pandemischem Potenzial gibt es nach Einschätzung der Forschergruppe um Gerald Keusch von der Boston University nicht nur auf exotischen Tiermärkten in fernen Ländern, sondern beispielsweise auch in heimischen Schweinefarmen.

Die Forscher listen im Anhang ihrer Publikation eine Reihe von porcinen Coronaviren auf, aus denen sich Erre­ger für die nächste Pandemie rekrutieren könnten. Dazu gehört beispielsweise das porcine Delta-Coronavirus, das zuerst in China, dann in Hongkong und 2014 auch in den USA aufgetreten ist. In Haiti wurde es schließ­lich bei 3 an Fieber erkrankten Kindern nachgewiesen (Nature 2021; 600: 133-137).

Die größere Übereinstimmung mit SARS-CoV-2 gibt es aber nach wie vor bei Coronaviren von Fledermäusen, die vor allem in Südostasien nachgewiesen wurden. Dazu gehört das Coronavirus RaTG13, das 2013 in der chinesischen Provinz Jünnan erstmals isoliert wurde und zu 96,1 % in der RNA-Sequenz mit SARS-CoV-2 übereinstimmt.

Noch höher war die Übereinstimmung mit 96,8 % bei dem Coronavirus BANAL 52/103/236, das 2020 in Laos entdeckt wurde und dessen S-Protein am humanen ACE2-Rezeptor bindet, was eine wichtige Voraussetzung für eine Infektion von Menschen ist.

Nach Ansicht der internationalen Forschergruppe, zu der auch John Amuasi vom Bernhard Nocht Institut in Hamburg gehört, ist die Welt derzeit schlecht auf die nächste Pandemie X vorbereitet. Dabei seien die Risikofaktoren, die den „Spillover“ begünstigen, in den letzten Jahrzehnten eher angestiegen. Dazu gehöre der enge Kontakt von Menschen zu möglichen Überträgern, der durch Landnutzung und Klimawandel, Umweltzerstörung, Wildtierhandel, Bevölkerungswachstum und wirtschaftlichen Druck gefördert werde.

Um eine neue Pandemie frühzeitig zu erkennen, wäre nach Ansicht der Forscher eine „Smart Surveillance“ not­wendig. Dazu gehöre die Überwachung von Wildtieren, Haus- und Nutztieren und Menschen an den Über­tragungsschnittstellen von Tier zu Mensch sowie in den Hotspot-Regionen für neu auftretende Krankheiten.

Dort müssten die Tiere durch Sequenzierung und Serologie auf verdächtige Erreger untersucht werden. Perso­nen mit beruflichem oder aus anderen Gründen regelmäßigen Kontakt zu den Tieren müssten ebenfalls über­prüft werden. Notwendig seien globale Netzwerke zum Austausch von Daten und Laborproben sowie neue Methoden zur Risikobewertung, um verdächtige Viren frühzeitig zu identifizieren.

Zu den politischen Optionen zur Vermeidung eines „Spillovers“ könnten das Verbot der Haltung und des Han­dels mit Risiko-Tierarten gehören. Die Vermischung von wild gefangenen und in Gefangenschaft gezüchteten Wildtieren sollte verboten werden, die Sicherheitsmaßnahmen auf Wildtierfarmen und -märkten verbessert werden. Notwendig seien engere Kontrollen und Strafen bei Verstößen.

Wildtierjägern, Landwirten, Transportunternehmen und Markthändler müssten regelmäßig auf eine Infektion mit neuen Viren überprüft werden. Der Konsum von Wildtieren sollte eingeschränkt werden. Notwendig wäre auch eine Überwachung des weltweiten Haustierhandels.

Die „Independent Task Force on COVID-19 and Other Pandemics“ ist aus einer „Lancet COVID-19 Commission“ hervorgegangen, die das Journal 2020 ins Leben gerufen hatte. Der Initiator Jeffrey Sachs, ein Ökonom der Columbia Universität in New York, zerstritt sich mit den übrigen Teilnehmern über die „Labor-Hypothese“. Nach Informationen von Science ging es dabei um einen möglichen Interessenkonflikt von Peter Daszak.

Der Biologe leitet die Nonprofit-Organisation „EcoHealth Alliance“, die in der Vergangenheit Forschungsauf­träge zu Coronaviren bei Fledermäusen an das „Wuhan Institute of Virology“ vergeben hatte. Dieses Institut steht im Mittelpunkt der „Labor-Hypothese“. Sachs hatte die „Lancet COVID-19 Commission“ im September 2021 aufgelöst. Die übrigen Mitglieder einschließlich von Daszak haben dann die „Independent Task Force on COVID-19 and Other Pandemics“ gegründet.

rme

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung