Politik

„Datenschutz darf nicht zum Interessenschutz werden“

  • Freitag, 29. Oktober 2021
/Microgen, stock.adobe.com
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Berlin – Wissenschaft und Techniker Krankenkasse (TK) haben die Bundesregierung aufgerufen, weitere „radikalere Schritte“ in der Digitalisierung von Gesundheitsdaten und -anwendungen zu gehen. Strategie­papiere sei­en genügend erstellt, man müsse nicht auf Ergebnisse von weiteren Kommissionen warten, man müsse schnell handeln.

Besonders die Coronapandemie habe gezeigt, wie wichtig Daten seien, erklärte Erwin Böttinger, Profes­sor für Digital Health und Personalisierte Medizin sowie Leiter des Digital Health Center am Hasso-Platt­ner-Institut, auf dem Fachforum Gesundheit des Tagesspiegel in Berlin.

„Wenn ich an das Mount-Sinai-Krankenhaus in New York City denke, in dem Mitarbeiter im März 2020 innerhalb von kürzester Zeit auf Daten von 20.000 COVID-Erkrankten zugreifen konnten und so die Ver­sorgung verbesserten, dann sollten wir überlegen, wie das auch in Deutschland möglich wäre“, so Böttinger.

Das Krankenhaus in New York kann inzwischen auch auf 100.000 Fälle von Menschen mit Long-COVID-Symptomen in ambulanter und stationärer Versorgung zurückgreifen. „Diese Datennutzung ist in Deutsch­land nicht möglich, nicht einmal zur Langzeitbeobachtung.“ Die Erwartungen, die in der vergan­genen Legislatur mit der elektronischen Patientenakte (ePA), dem elektronischen Rezept (eRezept) sowie den digitalen Gesund­heitsanwendungen (DiGA) geschürt worden seien, hinkten deutlich der Wirklichkeit hinterher.

Böttinger beklagte, dass viele Ärztinnen und Ärzte hätten nicht vom Mehrwert der digitalen Transforma­tion überzeugt werden können. Dabei gebe es so viele Möglichkeiten, auch mehr für Patientensicherheit sowie gute Versorgung beispielsweise mit Arzneimitteln. „Die digitale Transformation muss radikaler werden, um den Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf gute Versorgung und eine bessere Gesundheit zu realisieren“, so Böttinger.

Auch TK-Chef Jens Baas forderte zügige Weiterentwicklungen, wie beispielsweise bei der ePA. Auch hier müsse eine neue Regierung schnell handeln. „Dabei müssen meine Gesundheitsdaten geschützt werden und der Staat muss die Möglichkeiten zur sicheren, zentralen Ablage für Daten bereit stellen“, sagte Baas. Dabei müssten diese möglichst „bequem“ in der Handhabung sein und dürften nicht so kompliziert ge­stal­tet werden, wie derzeit beim eRezept geplant.

Es müsse auch klar sein, dass Krankenkassen ihre Versicherten in der ePa über Versorgungsangebote informieren dürfen. Dies sei bei Impfungen oder Vorsorgeangeboten besonders wichtig. „Wir als Kran­kenkassen informieren, wir behandeln den Patienten nicht. Ärztinnen und Ärzte sollen keine ePA ent­wickeln, sondern die Patienten behandeln.“ Für ihn ist klar: „Datenschutz darf nicht zum Interessenschutz werden“ – das gelte für alle Beteiligten im Gesundheitswesen.

Baas wies darauf hin, dass auch Krankenkassen bei ihren digitalen Unternehmungen künftig mit Firmen aus den USA oder China konkurrieren, die Datenschutz ganz anders verstehen und nutzen dürfen. „Wir haben hier einen erheblichen Wettbewerbsnachteil, das gilt für alle europäischen Gesundheitsanbieter.“ Er forderte auch, dass es für Menschen möglich sein müsse, dass sie Daten spenden könnten. Diese Ein­willigung müsse auch widerrufen werden können.

Generell werde es im Gesundheitswesen immer schwieriger, mit Versorgungsdaten zu arbeiten. So bekämen die Krankenkassen Daten aus der ambulanten Versorgung erst neun Monate nachdem sie beim niedergelassenen Arzt erhoben worden seien. „Wir müssen hier einen An­spruch auf tagesaktuelle Daten haben“, forderte Daniel Cardinal, Geschäftsbereichsleiter Versorgungs­innovation der TK.

Auch der Bundestagsabgeordnete Tino Sorge (CDU), der in der vergangenen Legislatur die Digitalgesetze mitverhandelt hatte, kritisierte die strikte Auslegung des Datenschutzes in der Gesundheitspolitik. „Es geht viel zulasten des Datenschutzes, oft ist es aber eigenes Unwissen, was man darf und was nicht.“

Er bezeichnete es als „paranoide Situation“, wie derzeit der Bundesdatenschutzbeauftragte mit den Kran­ken­kassen in Bezug auf die rechtliche Weisung zur ePA umgehe. Er forderte auch die Forschung auf, lau­ter ihre Stimme zu erheben, um an entsprechende Daten zu gelangen.

Als Vertreter der Forschung erklärte Christof von Kalle, Gründungsdirektor des Clinical Study Center an der Charité, dass es keine systematische Finanzierung von Forschung gebe. „Wir sind reich an Forderun­gen, aber arm an Ressourcen.“ Aus seiner Sicht müsse es mehr Zugriffsmöglichkeiten auf Gesundheitsda­ten für Forschende geben. „Da wir vieles nicht wissen, kann das Nichtwissen auch Menschen das Leben kosten.“

bee

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