Diskussion um Migration und psychische kranke Menschen erwartet

Berlin – Die Migrationsdebatte ist nach der Messerattacke eines psychisch kranken Flüchtlings aus Afghanistan mit zwei Toten in Aschaffenburg deutlich intensiver geworden. Aufgeheizt war sie bereits nach dem Amoklauf in Magedeburg. Wie also künftig umgehen mit Menschen, die auch durch ihre Fluchterfahrungen psychisch krank geworden sind?
Nach Einschätzung des Dachverbandes der Psychosozialen Zentren werden viele geflüchtete Menschen erst in Deutschland richtig krank. Sie befänden sich auf der Flucht in einem Überlebensmodus und müssten dann traumatische Erfahrungen erst mal verkraften, erklärte der Experte für Traumaarbeit und psychosoziale Versorgung des Verbands, Leo Teigler, in einem Interview der Berliner taz. Erst im Ankunftsland würden Betroffene dann Symptome ausbilden.
Nach Teiglers Angaben gibt es bundesweit 51 psychosoziale Zentren. 2022 seien dort rund 26.000 Flüchtlinge versorgt worden. Studien zeigten aber, dass rund 30 Prozent der geflüchteten Menschen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litten. Die Regelversorgung für diese Gruppe sei schlecht, so Teigler. 2022 kamen rund 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland. Bei einem Großteil von ihnen handelte es sich um Flüchtlinge aus der Ukraine.
Die Mehrzahl der Menschen, die in die Zentren kämen, hätten viel Gewalt erlebt, so der Experte weiter. „Erst als Fluchtgrund, dann während der Flucht. Und dann auch hier in Deutschland“, betonte Teigler. Die meisten Menschen seien sehr dankbar für die Hilfe in den Zentren. Es sei aber im psychiatrischen Arbeiten nie zu 100 Prozent möglich, abzuschätzen, ob eine Person nach Behandlungsabschluss aus irgendwelchen Gründen noch mal in psychotische Zustände gerate.
Zugleich lehnte Teigler den Vorschlag ab, Register für psychisch kranke Menschen einzuführen. Das erinnere ihn an die NS-Zeit. Aus fachlicher und politischer Perspektive sei das menschenverachtend. Menschen, die Gewalt erlebt hätten und eine gute Versorgung bekämen, seien überhaupt kein Risiko für irgendjemanden. Dass dies suggeriert werde, zusätzlich zu der Gewalt, der Menschen ausgesetzt seien, mache sprachlos.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hatte nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg im Dezember die Einführung eines Registers für Gefährder gefordert. Auch die CSU will den Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen verschärfen.
„Ein Zentralregister mit psychisch Erkrankten löst keine Probleme, sondern schafft neue“, hatte Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) danach erklärt.
Er mahnte statt „stigmatisierender Register“, die auf Verdacht und Unsicherheit basierten, individualisierte Risikoanalysen und frühzeitige Interventionen an. „Kriseninterventionsteams, Therapie und soziale Begleitung können dazu beitragen Eskalationen zu verhindern“, sagte Hentschel.
Er wies darauf hin, dass vulnerable Gruppen ein erhöhtes Risiko für psychische Krisen hätten, aber gleichzeitig wenig Zugang zu Hilfsangeboten. „Prävention beginnt nicht mit der Erfassung in einer Datenbank, sondern mit frühzeitiger Diagnostik, therapeutischer und sozialer Begleitung, die stabilisieren kann, bevor es zur Eskalation kommt.“
Elisabeth Dallüge aus dem DPtV-Bundesvorstand hatte klargemacht, dass es keine Belege dafür gibt, dass Einträge in Polizeidatenbanken Gewalt verhindern. „Die Fehlerquote ist potenziell hoch, viele Einträge basieren auf Einzelsituationen oder subjektiven Einschätzungen. Oft fehlen fundierte Diagnosen oder Risikobewertungen“, hatte Dallüge nach dem Amoklauf in Magdeburg betont.
„Einträge wie ,psychisch krank‘ verstärken gesellschaftliche Vorurteile, obwohl die Mehrheit psychisch erkrankter Menschen kein erhöhtes Gewaltpotenzial aufweist. Ob jemand gewalttätig wird oder nicht, hängt von verschiedenen statischen und dynamischen Einflüssen ab – nicht nur von einem isolierten Faktor.“
Ein zentrales Register könnte zudem Betroffene davon abhalten, Hilfe zu suchen – aus Angst vor Stigmatisierung. Das Schutzbedürfnis der Bevölkerung ist nach Ansicht der DPtV berechtigt. Doch der Ruf nach zentralen Registern basiere auf einem Wunsch nach Kontrolle, der auf falschen Annahmen beruhe, während tatsächliche Risikofaktoren oft unbeachtet bleiben würden.
Debatte im Bundestag
Der Umgang mit psychisch kranken Flüchtlingen, Gefährdern oder Straftätern könnte auch morgen im Bundestag eine Rolle spielen, wenn der Bundestag sich mit dem Thema Migration und Flüchtlingspolitik befassen will. Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) hat mehrere Anträge für den Bundestag angekündigt, denen die AfD zustimmen könnte.
Das rief heute die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen der sieben von der SPD geführten Bundesländer auf den Plan. Die Länderchefs riefen der anderen neun Bundesländer zum Schulterschluss gegen jede Zusammenarbeit mit der AfD auf.
Es sei wichtig, dass bei dem sensiblen Thema Flüchtlingspolitik sachlich debattiert werde und Lösungen erreicht würden, die tatsächlich umsetzbar seien, schrieben die SPD-Länderchefs in einem Brief, der auch dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt.
„Uns bewegt die Sorge, dass am Mittwoch im Bundestag demokratische Politikerinnen und Politiker in dieser Frage gemeinsam mit Mitgliedern der AfD abstimmen – einer Partei, die in immer mehr Ländern als gesichert rechtsextrem eingestuft ist", heißt es in dem Brief.
Ganz unabhängig von ihrer politischen Heimat seien die Mitglieder der Ministerpräsidentenkonferenz in dieser Frage bisher stets einig gewesen: „Die Brandmauer zwischen demokratischen und undemokratischen Parteien darf nicht ins Wanken geraten.“
Dies sei leider auf kommunaler Ebene längst passiert. Weder auf Landes- noch auf Bundesebene dürfe sich diese Entwicklung fortsetzen. Insbesondere die ostdeutschen Regierungschefs hätten diese Haltung in den vergangenen Monaten eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die Verantwortlichen im Bund und in den Ländern stünden allesamt in der Pflicht, keinen Zweifel an der gemeinsamen Haltung gegenüber Radikalen aufkommen zu lassen, heißt es weiter in dem Brief.
Abschließend appellieren die SPD-Ministerpräsidenten an ihre Kollegen von CDU, CSU und Grünen: „Bitte machen Sie ihren Einfluss geltend, dass der Konsens der Demokratinnen und Demokraten in dieser Woche auch im Deutschen Bundestag gewahrt bleibt.“
Unterschrieben ist der Brief von Stephan Weil (Niedersachsen), Alexander Schweitzer (Rheinland-Pfalz), Andreas Bovenschulte (Bremen), Dietmar Woidke (Brandenburg), Anke Rehlinger (Saarland), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) und Peter Tschentscher (Hamburg).
Kritik an den Plänen von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz zur Verschärfung der Migrationspolitik kam auch vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Die veröffentlichten Maßnahmen „werden keine Gewalttaten verhindern, sondern diese sogar befördern“, bemängelte der Flüchtlingsrat.
Auf ein Problem der Versorgung psychisch kranker Personen und auf Sicherheitsprobleme im Zusammenhang mit einer falsch eingeschätzten Fremdgefährdung werde mit Migrationsmaßnahmen reagiert. Das sei „indiskutabel“.
„Mehr Abschiebung heißt, mehr Druck auf Geflüchtete“, argumentiert der Flüchtlingsrat. „Schon jetzt nimmt die Zahl derer, die in die Illegalität oder in Nachbarstaaten verschwinden, deutlich zu.“
Bei Geflüchteten und anderen Migranten lösten die Merz-Vorschläge Unsicherheiten und Ängste aus. Das seien genau die Faktoren, die psychische Krankheiten sowie selbst- oder fremdverletzendes Verhalten psychisch Kranker befördern könnten.
Bisher gebe es auch von anderen Parteien keinen einzigen Vorschlag, wie psychisch kranke Geflüchtete früher und besser therapiert werden könnten, heißt es in der Mitteilung. Zudem würden etliche Messerattacken von deutschen Männern verübt, ohne dass es zu Schlagzeilen komme. „Benötigt werden Programme, um männlichen Identitätsentwürfen, die zu Gewalt führen, etwas entgegenzusetzen.“
Der Flüchtlingsrat forderte die Politiker auf, die Tat von Aschaffenburg nicht mit Abwehr von Migration und dem Schüren von Angst vor Migration zu verknüpfen. Angesichts dessen, dass Deutschland auf Migration angewiesen sei, brauche es Maßnahmen zur Prävention statt einer allgemeinen Abwehr.
Der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK) kritisierte den Vorstoß der CSU zu einer Reform des Umgangs mit psychisch Kranken. „Die aktuellen Forderungen der CSU erinnern in ihrer Grundhaltung bedenklich an vergangene Zeiten, in denen psychisch erkrankte Menschen als ,Gefahr' für die Gesellschaft stigmatisiert wurden. Besonders im Kontext der NS-Zeit zeigt die deutsche Geschichte eindrücklich, wohin derartige Denkweisen führen können“, sagte die kommissarische Vorsitzende des BApK, Heike Petereit-Zipfel.
„Zwangsmaßnahmen, die unter dem Deckmantel von „Schutz“ und „Sicherheit“ eingeführt werden, öffnen die Tür zu Entmenschlichung und Diskriminierung. Stattdessen müssen wir uns fragen, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, die Betroffene frühzeitig unterstützt, Krisen deeskaliert und ihnen eine Perspektive gibt“, betonte sie.
Schnelle, vermeintlich einfache Lösungen wie härtere Gesetze oder eine Verschärfung von Zwangsmaßnahmen seien „weder angemessen noch wirksam. Sie tragen vielmehr dazu bei, Betroffene und ihre Familien weiter zu stigmatisieren und die Kluft zwischen ihnen und der Gesellschaft zu vergrößern“, sagte Petereit-Zipfel.
„Die Ereignisse in Aschaffenburg müssen als Mahnung verstanden werden, endlich die Ressourcen und Mittel in die Hand zu nehmen und so zu lenken, dass eine umfassende und menschenwürdige Versorgung sichergestellt werden kann“, sagte Petereit-Zipfel vom BApK. „Reflexhafte Forderungen nach mehr Härte sind dabei ein Irrweg, der den Fortschritt der letzten Jahrzehnte gefährdet.“
Der Vorsitzende der CSU-Fraktion im bayerischen Landtag, Klaus Holetschek, wies die Kritik zurück. „Den Kontext hier mit der NS-Zeit herzustellen, ist völlig unangemessen und indiskutabel. Wenn am helllichten Tag in einem Stadtpark ein zweijähriges Kind von einem mutmaßlich schwer psychotisch erkrankten Täter erstochen wird, ist es Aufgabe und Pflicht der Politik, bestehende Gesetze zu überprüfen und an die neue Lage anzupassen.“ Niemand wolle „psychische Erkrankungen per se stigmatisieren“.
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