Ethikrat appelliert an Politik und Gesellschaft, Pflegebedürftige nicht zu isolieren

Berlin – Eindrücklich warnte der Deutsche Ethikrat heute davor, während der Coronapandemie mit ihren notwendigen Kontaktbeschränkungen die Bedürfnisse von Pflegebedürftigen aus den Augen zu verlieren.
In einer Ad-hoc-Empfehlung schlägt das interdisziplinär besetzte Gremium Maßnahmen vor, mit denen für die in Einrichtungen der Langzeitpflege lebenden Menschen trotz der aktuell gebotenen Infektionsschutzmaßnahmen ein Mindestmaß an sozialen Kontakten gesichert werden kann.
Die Gewährleistung von sozialen Kontakten müsse nicht nur konsequent beachtet und umgesetzt, sondern auch kontrolliert werden, fordert der Rat ferner. Wenn Angehörige fehlten, sollten auf Wunsch der Pflegebedürftigen auch bürgerschaftlich engagierte Personen einbezogen werden. Zudem sollten umfangreiche, leicht zugängliche und kostenfreie Teststrategien für An- und Zugehörige sowie Formen virtuellen Kontakts angeboten und aktiv unterstützt werden.
„Der Bereich der Langzeitpflege stellt einen besonderen ethischen Brennpunkt in dieser Pandemie dar“, sagte Ethikratvorsitzende Alena Buyx. Zum einen hätten die Menschen in diesen Einrichtungen das höchste Risiko, an COVID-19 zu versterben; zugleich seien sie ganz besonders von den Folgen bestimmter Maßnahmen betroffen.
„Das Gebot physischer Distanz gehört zu den zentralen und wichtigen Schutzmaßnahmen in der Pandemie, das ist keine Frage“, sagte die Medizinethikerin. „Allerdings wächst die Gefahr von Isolation, verringerter sozialer Teilhabe und einer erheblichen Verschlechterung der Gesundheit.“ Dem müsse begegnet werden.
Zwar habe der Gesetzgeber mit der jüngsten Novellierung des Infektionsschutzgesetzes ausdrücklich vorgeschrieben, dass in Alten- oder Pflegeheimen sowie Einrichtungen der Behindertenhilfe trotz aller Schutzmaßnahmen ein Mindestmaß an sozialen Kontakten stets gewährleistet bleiben müsse, konstatiert der Ethikrat. Damit sei jedoch nur angedeutet, welche Kontaktregelungen den Zielen des Infektionsschutzes ebenso wie den individuellen Ansprüchen auf soziale Teilhabe gerecht werden.
Alltag der Pflegebedürftigen verbessern
Mit seiner Ad-hoc-Empfehlung möchte der Deutsche Ethikrat konkreter werden und den Alltag der Pflegebedürftigen verbessern. Er fordert unter anderem, weniger die Anzahl und Häufigkeit der sozialen Kontakte als vielmehr deren Qualität in den Blick zu nehmen. Stets müsse individuell beantwortet werden, welche Beschränkungen hinsichtlich Art und Häufigkeit sozialer Kontakte sich in welcher Weise auf die Lebensqualität der einzelnen Person mit Pflegebedarf auswirken. Wenn möglich sollten Pflegebedürftige selbst über die Auswahl ihrer Kontaktpersonen entscheiden.
„Der persönlich erfüllende und anregende Kontakt, verbunden mit unterschiedlichen, von Person zu Person variierenden Arten der Nähe, beeinflusst Lebensqualität, Wohlbefinden, seelische und körperliche Gesundheit zutiefst“, betonte der Gerontologe Andreas Kruse. „Menschen in einer Grenzsituation völlig alleine zu lassen – das ist ethisch wie fachlich ein Unding.“
Allein könnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Pflegeheimen dies trotz ihres Engagements jedoch nicht gewährleisten, erklärte der Alternsforscher. Es seien deshalb alle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die Heime benötigten, um regelmäßige, von den Bewohnerinnen und Bewohnern gewünschte Besuche zu ermöglichen und zugleich ein ausreichendes Maß an Sicherheit vor Infektion zu bieten. „Hier sind vor allem engmaschige Testungen zu nennen“, sagte Kruse.
Einrichtungen sind nach Ansicht des Rates aber auch vielfach auf zusätzliche personelle Ressourcen angewiesen, um ein Mindestmaß an sozialen Kontakten sicherzustellen sowie Aktivierungsangebote vorzuhalten. Dazu könnte die Unterstützung durch Ehrenamtliche, die vielfach schon jetzt in den Einrichtungen tätig wären, ausgebaut werden, sagte Kruse.
Darüber hinaus sollte das Engagement zusätzlicher qualifizierter Kräfte, wie Studierender, gefördert werden, gegebenenfalls auch durch eine finanzielle Anerkennung. „Es ist eine Aufgabe politischer Gestaltung auf Bundes- und Landesebene, hierfür schnellstens einen verlässlichen Rahmen zu schaffen“, heißt es in der Empfehlung des Ethikrates. Dazu gehörten auch Vorkehrungen, die gewährleisten, dass die Sicherheitsstandards, wie Schnelltests und Schutzausrüstungen, auch von Ehrenamtlichen und Freiwilligen eingehalten würden.
„Für Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen der Langzeitpflege ist die Erfahrung von Zugehörigkeit zur Gemeinschaft fast immer untrennbar mit physischen Kontakten und nicht zuletzt mit der Erfahrung leiblicher Berührungen gebunden – etwa als Gesten des Beistandes und der Zuneigung“, verdeutlichte der Theologe Andreas Lob-Hüdepohl. Deshalb sei es der eindrückliche Appell des Ethikrates, das Mindestmaß an sozialen Kontakten nicht nur gesetzlich festzuschreiben, sondern es in der Praxis auch zu gewährleisten.
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