Gesundheitswesen vor großem strukturellen Reformbedarf

Berlin – Das deutsche Gesundheitswesen steht angesichts multipler und ineinander verknüpfter Krisen vor einem großen strukturellem Reformbedarf. Das erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) heute in Berlin bei der Eröffnung des Hauptstadtkongresses.
Die Welt ist so stark im Umbruch wie seit mindestens 30 Jahren nicht mehr: Coronapandemie, Klimawandel und Ukrainekrieg mögen unterschiedliche Ursachen haben, sind jedoch in ihren Auswirkungen und bei ihrer Bewältigung eng miteinander verbunden.
So verursache der Klimawandel landwirtschaftliche Produktionseinbrüche im globalen Süden, die zu Ernährungsproblemen führen, die wiederum durch die wegen des Krieges in der Ukraine ausbleibende Weizenlieferungen sowie steigender Preise für Energie und Düngemittel zu Ernährungskrisen führen, erklärte Amy Neumann-Volmer, Vorstandsvorsitzende der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen (Médicines Sans Frontières, MSF).
Ernährungsnotstand im Tschad
Erst gestern habe der Tschad wegen ausbleibender ukrainischer und russischer Lieferungen den Ernährungsnotstand ausgerufen. „Diese Krisen bedingen einander, sie hängen zusammen“, erklärte Neumann-Volmer. Und insbesondere die Coronapandemie habe erneut gezeigt, wie eng die Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung an die finanzielle Stärke einer Region oder eines Landes gekoppelt seien – und wie wenig die internationale Politik offenbar gewillt sei, das zu ändern.
Das lasse sich an den Ergebnissen des jüngst zu Ende gegangenen Ministertreffens der Welthandelsorganisation erkennen: Die seien „enttäuschend, aber erwartbar“ gewesen, sagte Neumann-Volmer. Zwar hatten sich die Mitgliedsländer auf eine befristete Aussetzung von Patenten geeinigt – allerdings nur für Impfstoffe, deren Rolle nach Aussage des bei der Initiative federführenden indischen Handelsministers bereits stark an Bedeutung verloren haben.
Arzneimittel und Diagnostika hingegen waren von den getroffenen Beschlüssen nicht erfasst worden. „Reiche Länder haben den Patentausstieg verhindert“, klagte Neumann-Volmer an. „Sagt das nicht viel über unsere Welt aus?“ Die WTO-Beschlüsse hätten gezeigt, dass Profitinteressen von Pharmakonzernen als wichtiger erachtet würden als eine weltweite Gesundheitsversorgung.
Politische Lösungen, für die Ärmsten und Schwächsten fehlen
„Es braucht mehr als humanitäre Hilfe, nämlich politische Lösungen, die auch die Ärmsten und Schwächsten einbeziehen“, so ihre Forderung. Das heißt jedoch nicht, dass der Bedarf an humanitärer Hilfe gering wäre. MSF sei nach wie vor schwerpunktmäßig im Südsudan, der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik, aber auch Afghanistan aktiv.
In der öffentlichen Wahrnehmung treten diese Krisenregionen aber seit Februar hinter der Ukraine zurück. Dort sei MSF bereits seit 1999 aktiv, damals noch in der Versorgung von Patienten mit Tuberkulose, Hepatitis C und HIV, seit 2014 auch mit mobilen Teams in der Ost-Ukraine.
Mit Beginn des russischen Angriffskrieges habe MSF seine Aktivitäten auf den Notfallmodus umgestellt, erfahrene Kollegen sowie mittlerweile 800 Tonnen medizinisches Material ins Land geschickt und mehrere Eisenbahnwaggons zu mobilen Versorgungseinrichtungen inklusive Intensivstationen umgerüstet.
Zunehmend zeige sich jedoch, dass der größte Hilfsbedarf nicht im Bereich der Kriegschirurgie liege, sondern die allgemeine medizinische Versorgung betreffe. „Nur weil Krieg ist, hören die Menschen nicht auf, krank zu sein“, betonte Neumann-Volmer. So seien vor allem Chroniker, die nicht fliehen können oder wollen, auf Hilfe angewiesen. Eine große Lücke klaffe dabei in der psychologischen Versorgung. Hier sei ein großer Bedarf nach wie vor nicht gedeckt.
Medizinischen Grundversorgung in der Ukraine in großer Not
Groß ist die Not bei der medizinischen Grundversorgung vor allem aufgrund der Zerstörung oder Beeinträchtigung medizinischer Einrichtungen. 700 Einrichtungen seien bisher attackiert worden, über 100 davon wurden vollständig zerstört, erklärte Viktor Liaschko, der als ukrainischer Gesundheitsminister und Epidemiologe Expertise in zwei der Krisen vereint. 14 Millionen Menschen hätten mittlerweile von ihren Wohnorten flüchten müssen, entweder als Binnenflüchtlinge oder in andere Länder.
„Sie können der Ukraine damit helfen, was Sie am besten können: Sein Sie ein gutes Vorbild für andere“, appellierte er aus Kiew zugeschaltet an das deutsche Publikum. „Wie Deutschland reagiert, wird seine zukünftige Führungsrolle in Europa bestimmen.“ Die Ukraine sei dabei für zahlreiche Formen der Kooperation offen, von direkter Hilfe beim Wiederaufbau des Gesundheitssystems bis zu Coaching-Programmen für Kliniken und Krankenhäuser.
Erst einmal kommt es jedoch auf konkrete Hilfe zur Selbsthilfe an: Unterstützung bei der Verteidigung des Landes. Deutschland stehe da fest und zweifelsfrei an der Seite der Ukraine, erklärte Brigadegeneral Christian Freuding, Leiter des Lagezentrums Ukraine im Bundesverteidigungsministerium.
Derzeit laufe konkrete Hilfe von der tonnenweisen Lieferung von Munition und Handwaffen zur Panzer- und Flugabwehr über die Ausbildung ukrainischer Besatzungen an Gepard-Panzern bis zum Ringtausch von schwerem Gerät wie Flugabwehr- und Kampfpanzern.
Jedoch zeige die Krise auch hierzulande, woran es mangelt: Deutschland habe in den zurückliegenden 30 Jahren Strukturen staatlicher Resilienz „reduziert, wenn nicht vernachlässigt“, betonte Freuding. Der Krieg in der Ukraine zeige, was viele hierzulande lange nicht hätten wahrhaben wollen, nämlich dass dazu auch bewaffnete Streitkräfte gehören.
Aber eben nicht nur die: „Die zentrale Frage ist allgegenwärtig: Wie schaffen wir es Strukturen im Gesundheitswesen für kommende Generationen zu erhalten?“, betonte Lauterbach. Das Gesundheitswesen müsse besser auf künftige Krisen vorbereitet werden. Das sei nicht zu schaffen, indem man sich auf die Befriedigung von Einzelinteressen beschränkt.
Stattdessen müssten Strukturen flexibler und bedarfsgerechter gestaltet werden. Im Krankenhaussektor gehe er das derzeit mit der kürzlich vorgestellten Kommission an. „Für fließende Übergänge zwischen den Sektoren müssen aber auch Daten fließen“, merkte er mit Blick auf die Aufholjagd bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens an.
Wie weit Deutschland da hinterherhängt, habe die Coronapandemie schmerzhaft vor Augen geführt, mahnte Urban Wiesing, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen: „Die Probleme sind nicht neu, es sind die Probleme der Moderne“, sagte er. „Neu ist die Aufdringlichkeit der Probleme.“
Ansammlung von Erbhöfen
Die Kombination aus Coronapandemie und Digitalisierung habe gezeigt, wie wichtig es sei, „sich nicht reaktiv zu empören, sondern proaktiv zu gestalten“. Dazu gehöre aber auch, entsprechende Diskurse über mögliche und nötige Reformen im Gesundheitswesen zu führen – und daran mangele es bei so manchen großen Projekten im Gesundheitswesen.
„Die Qualität der Diskussion in Deutschland wird der Frage der Reform des Krankenhaussystems nicht gerecht“, kritisierte er. „Wir haben eine Krankenhausstruktur aus den Boomer-Jahren, aber die Medizin hat sich geändert. Wenn sich die Medizin ändert, müssen sich aber auch die Strukturen ändern.“
Genau das sei aber das Problem in Deutschland: Institutionen würden viel zu oft der Institutionen selbst wegen erhalten statt wegen einer besseren Versorgung. Das sei ein unhaltbarer Zustand, erklärte Wiesing. „Das deutsche Gesundheitswesen geriert sich als eine Ansammlung von Erbhöfen.“
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