Kompetenznetz will Auswege aus der Einsamkeit aufzeigen

Berlin – Einsamkeit beeinflusst das Leben von vielen Millionen Menschen. Wird Einsamkeit chronisch, erhöht sich für Betroffene das Risiko für psychische und physische Erkrankungen und wirkt sich negativ auf ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aus.
„Einsamkeit hat viele Gesichter: der junge Mann im Homeoffice, die alleinerziehende Mutter oder die hochbetagte Frau im Pflegeheim“, erklärte Anne Spiegel, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), gestern bei der digitalen Auftaktveranstaltung zum neu gegründeten „Kompetenznetz Einsamkeit“.
Einsamkeit ist einer Untersuchung des BMFSJ zufolge besonders verbreitet bei Menschen im hohen Alter. Der Anteil der über 80-Jährigen, die sich aktuell als einsam bezeichnen, liegt danach bei mehr als zwölf Prozent – und damit etwa doppelt so hoch wie in den Jahren zuvor.
„Die Arbeit des Kompetenznetzes Einsamkeit (KNE) hat zum Ziel, die Strategien gegen Einsamkeit weiterzuentwickeln. Dazu wird das Thema aus zivilgesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Blickwinkeln betrachtet und es sollen Maßnahmen identifiziert werden, die der Vorbeugung und Bekämpfung von Einsamkeit dienen“, erläuterte Benjamin Landes, Direktor des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik und Leiter des KNE. Ein besonderer Fokus solle auf die Praxis der sozialen Arbeit sowie auf vulnerable Gruppen gelegt werden, die ein besonderes Einsamkeitsrisiko haben.
Das KNE soll laut Bundesfamilienministerin Spiegel ein „offenes Netzwerk“ sein, das Begegnungsangebote und -orte für einsame Menschen sichtbar macht. Als Beispiel nannte sie die 535 Mehrgenerationenhäuser in Deutschland und das Bundesprogramm „Menschen stärken Menschen“, das Bürger, die sich für andere Menschen engagieren, unterstützt.
„Großbritannien und Japan haben bereits ein Einsamkeitsministerium, die Niederlande einen Aktionsplan – Deutschland startet mit dem KNE, das wir mit einer Million Euro in diesem Jahr fördern“, sagte Spiegel.
Die Pandemie und die alternde Gesellschaft haben das Problem weiter verschärft
„Einsamkeit ist seit langem Thema – die Coronapandemie und die alternde Gesellschaft haben das Problem aber weiter verschärft“, sagte Maike Luhmann, die an der Ruhr-Universität Bochum unter anderem zu Einsamkeit forscht.
Zwischen sechs und zehn Prozent der Menschen in Deutschland bezeichneten sich als einsam; EU-weit seien 20 bis 40 Millionen Menschen betroffen. „Einsamkeit ist ein Mangelzustand, der psychisch belastet und einen ungesunden Lebensstil fördert“, erläuterte die Psychologin.
Einsamkeit sei dabei nicht gleichzusetzen mit Alleinsein oder sozialer Isolation. Wie viele Menschen man um sich herum brauche, um sich nicht einsam zu fühlen, sei individuell sehr unterschiedlich. „Es gibt keine einheitliche Messung von Einsamkeit“, betonte Luhmann.
Aktuell liegen der Wissenschaftlerin zufolge die unter 30-jährigen und die 30- bis 40-jährigen an der Spitze derjenigen, die sich einsam fühlen. Obwohl sich vermuten lasse, dass hier die Coronamaßnahmen eine Rolle spielten, seien die Gründe für Einsamkeit im jüngeren Erwachsenenalter – im Gegensatz zu den älteren Erwachsenen – noch nicht gut erforscht.
Individuelle Risikofaktoren für Einsamkeit
Dennoch gibt es Luhmann zufolge individuelle Risikofaktoren für Einsamkeit. Dazu gehören: Introvertiertheit, emotionale Instabilität, Arbeitslosigkeit beziehungsweise Armut, Leben ohne Partner, Migrationshintergrund sowie schlechte Beziehungen zu anderen Menschen. Auch Brüche im sozialen Umfeld, ein Umzug, Trennungen, sowie der Tod nahestehender Menschen könnten ein Grund für Einsamkeit sein.
Was hilft gegen Einsamkeit sind nach Angaben der Wissenschaftlerin das Aufrechterhalten oder der Aufbau von sozialen Netzwerken und sozialen Kontakten. Auch ehrenamtliche Unterstützung und soziale Kompetenztrainings könnten möglicherweise helfen – wie genau, sei aber nicht genau bekannt.
„Was man wirklich weiß, ist die Wirkung von Veränderung kognitiver Muster beispielsweise durch kognitive Verhaltenstherapie“, erklärte Luhmann. „Es bestehen allerdings große Lücken in der psychotherapeutischen Versorgung.“
Der Psychologin zufolge gibt es „sehr viele“ Initiativen gegen Einsamkeit. Diese seien aber zumeist schlecht vernetzt, hätten meist nur bestimme Gruppen im Fokus, seien selten evaluiert und unterfinanziert. Hier will das „Kompetenznetz Einsamkeit“ ansetzen.
Älteren den Einstieg in die digitale Welt erleichtern
„Es gibt viele tolle Vereine und Initiativen“, betonte auch Dagmar Hirche vom Verein „Wege aus der Einsamkeit“. Sie betonte, dass es vor allem für 80- bis 90-jährige Menschen sehr schwer sei, aktiv zu werden. Diese müssten abgeholt werden, beispielsweise mittels Vereinen wie Lichtblick, Silbernetz oder Silberdraht.
Besonders bewarb Hirche ihre Initiative „Wir versilbern das Netz“, die mittels einem Buch und diverser You-Tube-Videos älteren Menschen den Einstieg in die digitale Welt erleichtern will.
„Zugang zur digitalen Welt, der auch ein Weg aus der Einsamkeit sein kann, haben aber nur Menschen, die sich einen Wlan-Anschluss leisten können“, sagte Hirche. Viele Menschen könnten das nicht und würden sich beispielsweise bereits wegen gestiegener Stromkosten vom gesellschaftlichen Leben abschotten. „Armut ist im Zusammenhang mit Einsamkeit ein Riesenthema“, so Hirche.
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