Kritik an Zwangspsychotherapie bei Transsexuellen

Berlin – Transsexuelle Menschen sollen sich grundsätzlich psychotherapeutisch behandeln lassen, wenn sie ihren Körper etwa durch eine Operation an ihr empfundenes Geschlecht angleichen wollen. Das sieht eine neue Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes vor.
Demnach soll der Medizinische Dienst einer Geschlechtsangleichung bei Transsexuellen nur dann zustimmen, wenn sie sich vorher mindestens sechs Monate und mindestens zwölf Sitzungen à 50 Minuten psychotherapeutisch behandeln lassen.
Der GKV-Spitzenverband begründete die Richtlinie auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes mit fehlenden gesetzlichen Regelungen zum Leistungsrecht bei Transsexualismus. Daher könne nach wie vor nur die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) einen Leistungsanspruch innerhalb des Sozialgesetzbuchs V (SGB V) begründen.
„Veränderungen daran – somit auch ein gänzlicher Verzicht auf Psychotherapie – können nur durch den Gesetzgeber oder durch eine veränderte Rechtsprechung erfolgen“, erklärte ein Sprecher des GKV-Spitzenverbands.
Begutachtungsanleitungen (BGA) regeln die Zusammenarbeit zwischen den Krankenkassen und den Medizinischen Diensten. Sie müssen sicherstellen, dass die sozialmedizinische Einzelfallbegutachtung nach einheitlichen Standards erfolgt.
Eine Begutachtungsanleitung muss sich nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes zwingend nach dem Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) richten und darf „in keinem Fall den Geltungsbereich des SGB V“ verlassen. Dies beinhalte zwingend die Verwendung der derzeit gültigen ICD-10 (GM) und der zugehörigen Sozialrechtsprechung.
„Die Besonderheiten bei der sozialmedizinischen Begutachtung geschlechtsangleichender Maßnahmen bei Transsexualismus liegen vor allem darin, dass an einem dem Grunde nach biologisch gesunden Körper ein medizinischer Eingriff mit irreversiblen Folgen vorgenommen wird“, erläuterte der Sprecher des GKV-Spitzeverbandes weiter.
Die Sozialrechtsprechung sehe geschlechtsangleichende Operationen bei Transsexualismus daher nur dann vor, wenn bestimmte Bedingungen vorliegen. Das BSG betrachte in seiner Rechtsprechung weniger den Transsexualismus als Erkrankung an, sondern vielmehr den im Einzelfall vorhandenen Leidensdruck (BSG-Urteil vom 6. August 1987, 3 RK 15/86).
„Als ,krank' im Sinne des SGB V gelten Betroffene laut BSG nur dann, wenn die innere Spannung zwischen dem biologischen Geschlecht und der seelischen Identifizierung mit dem anderen Geschlecht eine derartige Ausprägung erfahren hat, dass ein krankheitswertiges psychisches Leiden vorliegt“, betonte der Sprecher.
Nur wenn psychiatrische und psychotherapeutische Mittel das Spannungsverhältnis nicht zu lindern oder zu beseitigen vermögen, gehöre es dem BSG zufolge zu den Aufgaben der Krankenkassen, die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation zu tragen.
Die Krankenkassenseite wies darauf hin, dass im Gegensatz zur Begutachtungsanleitung aus dem Jahr 2009 in der neu überarbeiteten Fassung keine starren Zeitkriterien von etwa 12 bis 18 Monaten Psychotherapie vor den verschiedenen geschlechtsangleichenden Maßnahmen mehr vorgesehen seien.
Für die Behandlung des krankheitswertigen Leidensdruckes sei in der aktuellen BGA auch keine Kurzzeittherapie (KZT) im Sinne der Psychotherapie-Richtlinie gefordert. Vielmehr werde lediglich in Bezug auf einen Behandlungsmindestzeitraum die Analogie zur KZT gezogen, um valide einschätzen zu können, ob der krankheitswertige Leidensdruck durch psychiatrische oder psychotherapeutische Mittel nicht ausreichend gelindert werden konnte.
„In der BGA ist zudem festgehalten, dass zur Behandlung des Leidensdrucks auch andere Behandlungssettings in Frage kommen können, wenn ein vergleichbarer Mindestzeitraum gegeben ist“, so der Sprecher des Kassenverbandes. Damit könnten etwa auch psychotherapeutisch tätige Ärzte und Spezialambulanzen in die Versorgung einbezogen werden.
Die Psychotherapeuten sehen die Neuerungen kritisch. „Menschen mit der Selbsteinschätzung, im falschen Körper zu leben, grundsätzlich als psychisch krank zu betrachten und sie zu einer psychotherapeutischen Behandlung zu zwingen, ist fachlich unverantwortlich und diskriminierend“, sagte Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK).
Die neue Krankenkassenrichtlinie widerspreche wesentlichen wissenschaftlichen Empfehlungen zur Beratung und Behandlung von transsexuellen Menschen. Sie verletze zudem deren Recht auf Selbstbestimmung und den Grundsatz partizipativer Entscheidung vor einer Behandlung.
Die BPtK ruft den GKV-Spitzenverband dazu auf, seine Begutachtungsanleitung „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus“ zurückziehen und neu mit wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Vertretern der Transsexuellen berät.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: