KV steigt aus: E-Rezept-Rollout vorerst gescheitert

Berlin – Die aktuelle Einführungsphase elektronischer Verordnungen ist in ihrer bisherigen Form gescheitert: Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) hat heute ihren Ausstieg aus dem Rollout bekanntgegeben. Grund ist die Entscheidung des Bundesdatenschutzbeauftragten gegen die Einlösung von E-Rezepten über die elektronische Gesundheitskarte (eGK).
Nach der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) ist damit auch die zweite ärztliche Partnerorganisation ausgestiegen. Die KVSH hatte Ende August aus ganz ähnlichen Gründen die Reißleine gezogen: Damals hatte der Landesdatenschutzbeauftragte die Übertragung von E-Rezepten via E-Mail oder SMS untersagt.
Als Alternative dazu hatte die für den Rollout federführend verantwortliche Gematik Ende August die Einlösung von E-Rezepten mittels der eGK ins Auge gefasst. Ein E-Rezept, das Ärzte in der Praxis ausdrucken und ihren Patienten mitgeben müssen, hat nämlich aus Sicht ärztlicher Standesvertretungen keinen Mehrwert, sondern verursacht ganz im Gegenteil sogar neuen Aufwand.
Doch daraus wird wohl mindestens im kommenden halben Jahr nichts: Der Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI), Ulrich Kelber, hat sich gegen das Verfahren ausgesprochen. Bisher hatte die Gematik nach Aussage ihres Geschäftsführers Markus Leyck Dieken auf eine Duldung der angedachten Vorgehensweise gehofft, bis Mitte 2023 neue, sicherere Authentifizierungsverfahren für die eGK-basierte E-Rezept-Einlösung entwickelt und zugelassen wurden.
Die KVWL reagierte auf Kelbers Entscheidung heute Morgen nach eigenen Angaben „mit völligem Unverständnis“. Als Konsequenz sehe sie sich gezwungen, den weiteren Roll-out-Prozess vorerst zu stoppen. „Die Entscheidung des Datenschützers ist eine Bankrotterklärung für die Digitalisierung im Gesundheitswesen generell und speziell in der ambulanten Versorgung“, erklärte KVWL-Vorstand Thomas Müller.
Die rein digitale Übertragung wäre für die mehr als 13.000 ärztlichen Mitglieder der KVWL ein großer Schritt gewesen, allerdings werde nun einmal mehr eine große Chance leichtfertig vertan. Rund 250 Praxen hatten sich laut KVWL bisher am E-Rezept-Roll-out beteiligt, in weiteren Stufen sollte der Teilnehmerkreis sukzessive erweitert werden. Doch dafür stoppt die KVWL nun bis auf weiteres die Akquise.
„Die vom Bundesdatenschützer erteilte Ablehnung des eGK-Wegs bedeutet eine eklatante zusätzliche Verzögerung bis Mitte 2023“, kritisiert Müller. „Denn jetzt sind zusätzliche technische Anpassungen in den Apotheken-Verwaltungssystemen und in den Konnektoren für die Anbindung an die Telematikinfrastruktur erforderlich.“
Aus Müllers Sicht ist das von der Gematik definierte Erfolgskriterium, dass 25 Prozent der Rezepte in den Roll-out-Bezirken elektronisch ausgestellt und eingelöst werden, nun nicht mehr zu halten. Der angestrebte Fortschritt für Patienten, Ärzte und alle anderen Beteiligten sei damit massiv in Frage gestellt.
„Der Bundesdatenschützer zwingt uns damit, Konsequenzen zu ziehen“, erklärte Müller. „Es ist für die Ärzteschaft nicht zumutbar, noch bis Mitte des nächsten Jahres nahezu ausschließlich papiergebundene E-Rezepte auszustellen.“ Die KVWL fordere deshalb erneut eine rein digitale Lösung – nur dann könne eine Fortsetzung des Rollouts erfolgen.
Rückendeckung erhält er dabei von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Die Entscheidung der KVWL sei „aus meiner Sicht konsequent“, erklärte KBV-Vorstand Thomas Kriedel heute. Es solle nun gewartet werden, bis die Gematik eine datenschutzkompatible Lösung gefunden hat.
„Wir haben aus der Gematik gehört, das wird wohl einige Zeit dauern“, dämpfte Kriedel mögliche Hoffnungen auf eine schnelle Lösung. „Man muss die Spezifikation machen, dann muss programmiert werden. Das könnte ein, zwei Quartale dauern, bis das der Fall wird. Dann kann aber mit umso mehr Verve dieses Produkt in die Fläche gebracht werden.“
Auch die KVSH stellt sich hinter ihre Schwesterorganisation. Sie unterstütze die „konsequente Haltung von Vorstand und Vertreterversammlung der KVWL“, ebenfalls aus dem E-Rezept-Rollout auszusteigen. „Mein Respekt für die Entscheidung der KVWL, die ihr sicher nicht leichtgefallen ist“, betonte die Vorstandvorsitzende, Monika Schliffke.
Die KVSH fordere ebenfalls komplett digitale Lösungen für das E-Rezept, die für alle Patienten, Praxen und Apotheken leicht umsetzbar sind und jeden Verordnungsweg nachvollziehen. „Die Gematik-App ist diese Lösung nicht“, unterstrich Schliffke. Bisher können aufgrund hoher bürokratischer und technischer Hürden nur wenige Zehntausend der 73 Millionen gesetzlich Krankenversicherten die Gematik-App in ihrem angedachten Funktionsumfang nutzen.
Deutliche Unterstützung erhält die KVWL auch vom Deutschen Hausärzteverband und vom Hausärzteverband Westfalen-Lippe. Die Entscheidung sei „absolut nachvollziehbar“, denn nach aktueller Sachlage sei das E-Rezept in dieser Form „de facto nicht sinnvoll nutzbar“, erklärte Anke Richter-Scheer, Vorsitzende des Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe.
„Es ist mehr als nur bedauerlich, dass es die verantwortlichen Akteure im Jahr 2022 nicht schaffen, eine praktikable Lösung zur Verfügung zu stellen, die die Versorgung einfacher und digitaler macht“, betonte sie. Es stehe derzeit kein praktikabler digitaler Übertragungsweg mehr offen.
„Die Hausärztinnen und Hausärzte würden sehr gerne das E-Rezept nutzen, die Umsetzung ist allerdings so schlecht, dass es weder den Kolleginnen und Kollegen noch den Patientinnen und Patienten zumutbar ist“, erklärte auch die erste Stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, Nicola Buhlinger-Göpfarth.
„Die Liste der gescheiterten Telematikinfrastrukturprojekte wird somit immer länger. Es zeigt sich einmal mehr: Die Anwendungen der Telematikinfrastruktur funktionieren in der Praxis nicht.“
Die Gematik sieht das bekanntlich anders. Sie betont, dass trotz der aktuellen Entscheidung weiterhin E-Rezepte ausgestellt und eingelöst sowie die Prozesse weiterentwickelt würden. Insgesamt würden deutschlandweit stetig mehr Praxen und Apotheken die digitale Anwendung nutzen: Seit Anfang Oktober haben demnach mehr als 3.700 Arzt- und Zahnarztpraxen E-Rezepte ausgestellt, die in mehr als 9.200 Apotheken eingelöst wurden.
Allerdings: Ausweislich des Gematik-Dashboards wurden in diesem Jahr nur etwas mehr als eine halbe Million E-Rezepte ausgestellt – bei einer halben Milliarde Verordnungen im Jahr. Trotz der freiwillig möglichen Nutzung ist das E-Rezept also noch weit davon entfernt, eine Massenanwendung zu sein.
Das soll sich nach aktuellem Stand ab Mitte kommenden Jahres ändern: Dann soll laut Gematik die Einführung der eGK zusätzlich beschleunigt werden, sodass mit ihr E-Rezepte in den Apotheken einfach und sicher eingelöst werden können. Zur Entwicklung einer dafür notwendigen technischen Lösung stehe die Gematik im engen Austausch mit ihren Gesellschaftern, dem BfDI und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI).
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) – das die Entscheidung der KVWL nach eigenen Angaben ebenfalls bedauert – übt sich im selben Zweckoptimismus: Einführung und Entwicklung des E-Rezeptes würden trotz des Aussstiegs weitergehen.
„Es kann weiterhin bundesweit eingesetzt werden“, erklärte ein Ministeriumssprecher auf Anfrage. „Und Mitte kommenden Jahres werden wir die Nutzung des E-Rezeptes mit einer einfacheren und sicheren Lösung ermöglichen.“
Eine Antwort auf die Frage, wie der weitere Rollout ohne ärztliche Partnerorganisationen und deren Akquise – mithin also eine weitere Heraufskalierung des E-Rezept-Aufkommens – bis dahin sinnvoll durchgeführt werden soll, beantwortete das Minsiterium nicht.
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