Politik

Länger arbeiten: Kontroverse um Reiche-Vorstoß

  • Montag, 28. Juli 2025
/shurkin_son, stock.adobe.com
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Berlin – Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche hat die Deutschen aufgefordert, mehr und länger zu arbeiten – und mit ihrem Vorstoß eine Kontroverse ausgelöst.

„Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen“, sagte die CDU-Politikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuspruch bekam sie von Arbeitgeberseite, der CDU-Sozialflügel und die SPD kritisierten Reiche scharf.

„Wir müssen mehr und länger arbeiten“, sagte Reiche. Leider verweigerten sich zu viele zu lange der demografischen Realität. „Es kann jedenfalls auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen“, sagte Reiche. Es gebe viele Beschäftigte in körperlich anstrengenden Berufen, aber auch viele, die länger arbeiten wollten und könnten.

1.800 Stunden pro Jahr arbeiteten, in Deutschland aber nur 1.340 Stunden. „Im internationalen Vergleich arbeiten die Deutschen im Durchschnitt wenig“, kritisierte Reiche. Die sozialen Sicherungssysteme seien überlastet. „Die Kombination aus Lohnnebenkosten, Steuern und Abgaben machen den Faktor Arbeit in Deutschland auf Dauer nicht mehr wettbewerbsfähig“, sagte Reiche.

Auf die Frage, warum sie so wenig Kritik am Rentenpaket und dem Tariftreuegesetz von Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) äußere, sagte Reiche: „Beide Gesetzentwürfe sind noch nicht beschlossen, sondern werden aktuell in der Regierung beraten. Hier haben wir intern unsere Kritik geäußert und Änderungen durchgesetzt. Der Koalitionsvertrag bindet uns.“ Was darin an Reformen stehe, werde auf Dauer jedoch nicht reichen.

Bas will mit ihrem ersten Rentengesetz das Rentenniveau mit Milliardensummen bei 48 Prozent sichern. Während dies Teil der SPD-Wahlkampfversprechen war, hatten es die Frühstartrente und die Aktivrente aus dem Unionswahlprogramm in den Koalitionsvertrag geschafft. Das Tariftreuegesetz sieht vor, dass Unternehmen ihre Beschäftigten bei Aufträgen des Bundes künftig nach Tarif bezahlen sollen.

Ähnlich wie Reiche hatten sich in den vergangenen Monaten bereits Bundeskanzler Friedrich Merz und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann geäußert. „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, sagte Merz etwa beim CDU-Wirtschaftstag im Mai. „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“

Der Vorstoß kommt nicht in allen Teilen der Partei gut an – der CDU-Sozialflügel (CDA) kritisierte Reiches Aussagen am Wochenende scharf. CDA-Bundesvize Christian Bäumler sagte, ihre Forderungen hätten keine Grundlage im Koalitionsvertrag. „Wer als Wirtschaftsministerin nicht realisiert, dass Deutschland eine hohe Teilzeitquote und damit eine niedrige durchschnittliche Jahresarbeitszeit hat, ist eine Fehlbesetzung“, sagte er.

Dagmar Schmidt, Fraktionsvize des Koalitionspartners SPD, sagte den Funke-Zeitungen, Reiche argumentiere mit irreführenden Zahlen zur Arbeitsbelastung in Deutschland. „Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen ist seit Mitte der 2000er-Jahre deutlich angestiegen. Es arbeiten mehr Menschen, davon insbesondere viele Frauen, in Teilzeit. Würden sie alle ihre Arbeit kündigen, stiege das durchschnittliche Arbeitsvolumen.“

Der wirtschaftspolitische Sprecher der Fraktion, Sebastian Roloff, kritisierte im Spiegel, Deutschland brauche zwar mehr Arbeitskraft, „das kann man aber nicht pauschal über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters erzwingen“.

Linken-Fraktionschef Sören Pellmann sagte der Welt, die Äußerungen seien „Teil einer immer heftigeren Kampagne von Union und Arbeitgebern gegen die Mehrheit und den Sozialstaat“. Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der AfD-Fraktion, Gerrit Huy, sagte: „Statt die arbeitende Bevölkerung zu beschimpfen, soll sie erst einmal zeigen, was sie kann.“

Der Sozialverband Deutschland (SoVD) übte ebenfalls Kritik. Durch ein mögliches Credo, dass die Menschen länger arbeiten könnten, dürfe es nicht „zu einer Anhebung des Renteneintrittsalters durch die Hintertür kommen“, sagte die SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier.

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnte vor einer Erhöhung des Rentenalters. „Für gute Renten muss jetzt auf der Einnahmeseite der Rentenversicherung mehr reinkommen“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie die Mütterrente müssten aus Steuergeldern und nicht aus der Rentenkasse bezahlt werden.

Positiv fiel dagegen die Reaktion des Arbeitgeberpräsidenten Rainer Dulger aus. „Wirtschaftsministerin Reiche spricht Klartext – und das ist gut so. Wer jetzt mit Empörung reagiert, verweigert sich der Realität“, sagte Dulger. Die CDU-Politikerin fordere eine umfassende Reformagenda, die auch die sozialen Sicherungssysteme einschließt.

„Das zeigt: Das Rendezvous mit der Realität hat in der Bundesregierung begonnen. 50 Prozent Sozialversicherungsbeitrag sind keine Verheißung, sondern ein Warnsignal“, sagte Dulger.

Wer angesichts der demografischen Entwicklung weiter den Kopf in den Sand stecke, versage vor der Verantwortung gegenüber kommenden Generationen. „Deutschland muss wieder mehr arbeiten, damit unser Wohlstand auch morgen noch Bestand hat“, mahnte Dulger.

dpa

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