Long COVID und ME/CFS: Bundesregierung tappt im Dunkeln
Berlin – Die Bundesregierung hat noch keine gesicherten Erkenntnisse zur Zahl und Zunahme der Zahl der Patienten mit Myalgischer Enzephalomyelitis/ Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) in Deutschland. Patientenverbände fordern eine bessere Diagnostik und Versorgung. Ein entsprechender Bericht, der dafür als Grundlage dienen soll, wird aber nicht vor 2023 fertiggestellt werden.
ME/CFS wird immer mehr zum Politikum: Die noch vor wenigen Jahren kaum bekannte Krankheit erhält in der jüngeren Vergangenheit immer mehr Aufmerksamkeit – nicht zuletzt, weil derzeit ein Zusammenhang zu Long COVID vermutet wird. Patientenvertreter fordern von der Bundesregierung mehr Engagement in dem Bereich.
Dabei weiß sie selbst nicht genau, wie viele ME/CFS-Patienten es in Deutschland gibt. Das geht aus der Antwort auf eine kleine Anfrage der Unionsfraktion im Bundestag hervor. Stattdessen beruft sich die Bundesregierung auf das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das in seinem Berichtsplan vom Juni 2021 auf Schätzungen verweist, nach denen in Deutschland 300.000 bis 400.000 Personen an ME/CFS erkrankt sind.
Für die jüngst häufig kolportierte Aussage, dass in Deutschland mit 100.000 zusätzlichen Erkrankungen an ME/CFS in Folge von COVID-19 zu rechnen ist, gebe es aus Sicht der Bundesregierung jedoch „keine hinreichenden Belege“.
Allerdings, so wendet sie ein, dürften auch nicht alle Long-COVID-Patienten mit ähnlichen Symptomen automatisch als ME/CFS-Patienten gezählt werden: „Nur bei einer Teilgruppe der von Long- oder Post-COVID-Betroffenen finden sich ähnliche Symptome wie bei ME/CFS“, schreibt die Bundesregierung. „Wie groß der Anteil von ME/CFS-Symptomen bei Long- oder Post-COVID-Betroffenen ist, ist noch nicht ausreichend erforscht.“
Eine Verbesserung der Versorgung will die Bundesregierung nach eigenen Angaben dennoch erreichen. So wurde im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP vereinbart, dass zur weiteren „Erforschung und Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von COVID-19 sowie für das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen“ geschaffen werden soll.
„Aktuell werden im BMG Strukturen aufgebaut, die es ermöglichen, das dynamische Geschehen rund um Long-COVID noch besser zu analysieren und die notwendigen Maßnahmen einschließlich Umsetzung des Koalitionsvertrags zu koordinieren“, schreibt die Bundesregierung nun.
Um das Wissen, die Sichtbarkeit und den Umgang mit der Erkrankung zu verbessern, habe das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) bereits im Februar 2021 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) als unabhängige Institution beauftragt, den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand aufzuarbeiten.
Die Ergebnisse sollen daraufhin in Form eines wissenschaftlichen Berichts veröffentlicht werden und in eine Gesundheitsinformation zu ME/CFS münden, die auf der Webseite www.gesundheitsinformation.de veröffentlicht wird. Allerdings kann das noch dauern: Das Projekt ist am 1. März 2021 gestartet, die Ergebnisse sollen bis zum 30. Juni 2023 vorgelegt werden.
Patientenvertreter kritisieren außerdem, dass es viel zu wenige Ärzte gebe, die ME/CFS korrekt diagnostizieren können. So wurden bis heute keine Biomarker für die Krankheit entdeckt.
„Die Diagnostik des Krankheitsbildes ME/CFS birgt aufgrund fehlender wissenschaftlich abgesicherter, einheitlicher und verbindlicher diagnostischer Kriterien erhebliche Probleme“, räumt auch die Bundesregierung ein. Die Differenzialdiagnose erfordert unter anderem den Ausschluss spezifischer somatischer oder psychischer Erkrankungen.
Allerdings sieht sie sich nicht in der Verantwortung, das zu ändern: „Grundsätzlich liegt es in der Zuständigkeit und Kompetenz der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften, den Stand der Erkenntnisse zur Diagnostik und Behandlung von Krankheiten zusammenzutragen, zu aktualisieren und in Fachkreisen zu verbreiten.“ Das erfolge insbesondere durch die „konsensuale Erstellung hochwertiger, evidenzbasierter medizinischer Leitlinien.“
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