Ökonom Fratzscher: Künftige Regierung braucht Mut zu großen Reformen

Berlin – Der Ökonom Marcel Fratzscher erhofft sich von der künftigen Bundesregierung tiefgreifende Änderungen und kluge Investitionen. Er würde sich wünschen, dass die neue Regierung den Mut zu großen Reformen habe – ein „Weiter so“ dürfe es insbesondere bei Gesundheit, Pflege und Rente nicht geben, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gestern Abend bei einer Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes in Berlin. Diese stand unter dem Titel: „Fass ohne Boden? Ein gesunder Sozialstaat muss bezahlbar bleiben.“
CDU, CSU und SPD wollen ab morgen zehn Tage lang über einen Koalitionsvertrag verhandeln. Grundlage dafür ist ein Sondierungspapier, in dem zum Thema Gesundheit nur wenige Sätze enthalten sind. Vereinbart wurde in dem Papier allen voran, die Schuldenbremse für höhere Verteidigungsausgaben zu lockern und ein schuldenfinanziertes Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für die Infrastruktur zu schaffen. Die Grünen, deren Stimmen für die nötige Grundgesetzänderung benötigt werden, wollen dem geplanten Finanzpaket in seiner aktuellen Form nicht zustimmen.
Die geplanten zusätzlichen Investitionen für Infrastruktur begrüßt Fratzscher grundsätzlich: Wenn dies wirklich so komme, sei es als Paradigmenwechsel zu werten. Es sei eine „riesige Chance“. Doch die Mittel müssten klug ausgegeben werden, mahnte er. Nach den Sondierungsgesprächen seien auch Ausgabenerhöhungen für beispielsweise Steuersenkungen in der Gastronomie, Unternehmensbesteuerung, Ausweitung der Mütterrente und viele andere angekündigt worden, die grundsätzlich auch verständlich seien.
Für den Ökonom ist nach eigenen Worten aber ein anderer Punkt zentral: Es brauche eine andere Mentalität zu den Fragen, wie Deutschland zukunftsfähig werden könne, wie man mehr öffentliche Investitionen generiere, damit Unternehmen wieder mehr private Investitionen tätigten, damit mehr wirtschaftliche Dynamik und mehr Steuereinnahmen entstünden. Dann sei der Staat wieder auskömmlicher ausgestattet, um in die Daseinsvorsorge zu investieren.
Fratzscher kritisierte es als populistisch, dass häufig behauptet werde, der zu große Sozialstaat sei Schuld an verschiedenen Problemen in Deutschland. Das Gegenteil sei zutreffend: Man brauche einen starken Sozialstaat, denn nur wenn Menschen gesund seien, könnten sie bei der Arbeit produktiv sein. „Ein leistungsfähiger Sozialstaat ist die Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg.“ Eine gute soziale Absicherung sei ein Wirtschaftsfaktor.
Weitere Zunahme der Kosten für Sozialsysteme zu erwarten
Aus demografischen Gründen nähmen die Kosten für die Sozialsysteme in Zukunft zu, so der DIW-Präsident weiter. Es gelte, eine Balance zu finden und sich zu fragen, was man sich als Gesellschaft leisten könne und wie die Kosten verteilt sein sollen. In der Politik sei zunehmend die Haltung verbreitet, dass eine stärkere Umverteilung von Jung zu Alt gebraucht werde, dies geschehe über die Beiträge.
Allerdings könnten zu stark steigende Sozialbeiträge ab einem gewissen Punkt zu einer wirtschaftlichen Bremse werden, gab Fratzscher zu bedenken. Es werde dann immer schwieriger, Arbeitsplätze in Deutschland zu halten.
Erst vor einigen Tagen legte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) Zahlen zu den vorläufigen GKV-Finanzergebnissen hervor: Die Krankenkassen verzeichneten demnach 2024 ein Defizit von rund 6,23 Milliarden Euro. Das Deutsche Ärzteblatt berichtete.
Dass es eine grundlegende Reform der GKV brauche, „statt nur an der Beitragsschraube zu drehen“, bekräftigte die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer. Es gebe ein Ausgabenproblem. Ressourcen müssten sorgsamer genutzt und Mittel bedarfsgerecht eingesetzt werden, mahnte sie. Als ein Beispiel nannte sie eine bessere Patientensteuerung.
Das Ende der Fahnenstange sei erreicht, so Pfeiffer. Ihre Warnung: Wenn das Leistungsversprechen bröckele, dann bröckele letztlich auch das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Demokratie. Die Kosten explodierten derzeit geradezu, was sich aber nicht in einem Mehr an Leistung widerspiegle. Durch die demografische Entwicklung verstärke sich das Dilemma.
Auch wenn häufig ein Bürokratieabbau gefordert werde, um effizienter arbeiten zu können: Häufig handele es sich bei den Aufgaben, über die geklagt werde, schlicht um notwendige Dokumentation, sagte Pfeiffer.
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