Regressrisiko bei vertraulichen Erstattungsbeträgen bleibt unbekannt

Berlin – Die erstmalige Vereinbarung eines vertraulichen Erstattungsbetrags für den GLP1- und GIP-Rezeptoragonisten Tirzepatid führt zu bisher ungeklärten Fragen bei der Verordnung. Ob Ärzte aufgrund des nicht einsehbaren Preises mit einem erhöhten Regressrisiko rechnen müssen, wird von Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) unterschiedlich bewertet.
Im Juli war bekannt geworden, dass der Hersteller Eli Lilly als erstes Unternehmen von der Neuregelung, die mit dem Medizinforschungsgesetz (MFG) eingeführt worden war, Gebrauch gemacht hat. Der Konzern vereinbarte für sein Produkt Mounjaro mit dem GKV-Spitzenverband einen vertraulichen Erstattungsbetrag. Damit wurden Regelungslücken real, vor denen die Akteure der Selbstverwaltung bereits im parlamentarischen Prozess eindringlich gewarnt hatten.
Von Anfang an wiesen die Akteure der Selbstverwaltung auf massive Schwachstellen des Konzepts hin. Sie kritisierten unter anderem, dass die Berechnung von Zuschlägen für Apotheken oder den Pharmagroßhandel mangels des realen Erstattungsbetrags nicht korrekt berechnet werden könne.
Die Krankenkassen warnten zudem vor dem hohen bürokratischen Aufwand, der durch die Rückerstattungsmechanismen für die Differenz aus dem Listenpreis und dem tatsächlichen Erstattungsbetrag zwischen Kassen und Hersteller entstehen würde.
Aus ärztlicher Perspektive stellte sich vor allem die Frage, wie Verordnende das Wirtschaftlichkeitsgebot einhalten sollen, wenn sie den tatsächlichen Erstattungsbetrag eines Arzneimittels nicht kennen – und was das für etwaige Wirtschaftlichkeitsprüfungen und möglicherweise daraus resultierende Regresse der Krankenkassen bedeutet.
Im Falle von Mounjaro ist vor allem der Vergleich zum GLP-1-Rezeptoragonist Semaglutid von Novo Nordisk relevant, der unter dem Handelsnamen Ozempic das wichtigste Konkurrenzprodukt zu Mounjaro ist. Dabei könnte diese Unsicherheit bezüglich möglicher Regresse – zumindest theoretisch – auch für Ozempic gelten.
Wenn nämlich nur diese beiden Arzneimittel in der jeweiligen Indikation zur Verfügung stehen, fehlt die Vergleichbarkeit in beide Richtungen: Zwar ist der reale Erstattungsbetrag von Ozempic einsehbar, doch wenn jener von Mounjaro es nicht ist, fehlt die Vergleichsgröße. Welches Arzneimittel wirtschaftlicher ist, kann also bei keinem der beiden festgestellt werden.
„Ob Regresse in bestimmten Konstellationen tatsächlich erfolgreich sein können, wird wohl erst durch Gerichtsverfahren endgültig entschieden werden“, vermutet Andreas Klinge, Diabetologe und stellvertretender Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ). „Wir wissen es also in ein paar Jahren. Bisher herrscht da Ungewissheit auf allen Seiten.“
Dies würde jedoch zugleich, zumindest im anhängigen Fall, auch das Ende der Vertraulichkeit bedeuten. Denn eine Kasse müsste in einem etwaigen Verfahren den durch die mutmaßlich unwirtschaftliche Verordnung real verursachten Schaden offenlegen, den sie zurückfordert – und damit den tatsächlichen Erstattungsbetrag, wie Klinge betont: „Es gibt also entweder keine Regresse oder keine vertraulichen Erstattungspreise. Beides zusammen geht nicht.“
Warten auf Wirtschaftlichkeitshinweise
Eigentlich hatte der Gesetzgeber versucht, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden: Demnach sollen sogenannte Wirtschaftlichkeitshinweise eingeführt werden, die einen Vergleich auch ohne die Nennung des konkreten Erstattungsbetrags ermöglichen sollten.
„Die Wirtschaftlichkeit für ein Arzneimittel mit einem vertraulichen Erstattungsbetrag ist somit auch zukünftig bei der Verordnungsentscheidung zu berücksichtigen“, betont der GKV-Spitzenverband auf Anfrage. „Daher finden auch die Instrumente der Wirtschaftlichkeitsprüfung weiterhin Anwendung.“
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) sieht das anders. Da Ärzte bei einem vertraulichen Erstattungsbetrag keinerlei Informationen über die tatsächlichen Kosten eines Arzneimittels hätten, müssten sie sich im Hinblick auf Wirtschaftlichkeitsprüfungen darauf verlassen können, dass der GKV-Spitzenverband und der Hersteller einen wirtschaftlichen Preis verhandelt hätten.
„Für uns ist klar: Eine Steuerung kann auf ärztlicher Seite nur über den indikationsgerechten Einsatz erfolgen“, unterstreicht KBV-Vorstandsmitglied Sibylle Steiner. „Wirtschaftlichkeitsprüfungen auf Basis der Kosten müssen dann wegfallen.“
Zentral ist daher die Frage, wie genau die vorgesehenen Wirtschaftlichkeitshinweise funktionieren sollen, um einen Vergleich auch ohne Nennung des Preises zu ermöglichen. Auch das ist bisher unklar. Es gibt sie schlicht noch nicht.
Regelungen auf Landesebene?
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und der GKV-Spitzenverband verweisen auf Anfrage darauf, dass es die Kassen und KVen seien, die auf regionaler Ebene über die Art und Weise entscheiden müssten, wie sie die Ärzte über eine wirtschaftliche Verordnungsweise informieren.
Hört man sich bei den KVen um, herrscht dort allerdings größtenteils Ratlosigkeit – oft mit dem Verweis, dass sich die Bundesebene um das Thema kümmern müsse.
Eine prinzipielle Regressgefahr sehe man zwar, habe aber auch noch keine weiteren Informationen, erklärt beispielsweise eine Sprecherin der KV Rheinland-Pfalz. Man warte darauf, dass sich KBV und GKV-Spitzenverband dahingehend auf Rahmenbedingungen einigen.
„Das zukünftige Vorgehen ist in Niedersachsen noch nicht geklärt“, heißt es auch von der dortigen KV. Derzeit sei man noch in laufender Abstimmung mit den Vertretern der gesetzlichen Krankenversicherung, allerdings seien die Gespräche vertraulich. Es sei zum aktuellen Zeitpunkt noch unklar, wie die Kassen den neuen Sachverhalt bewerten werden. „Insofern können wir derzeit keine Aussage zur Wirtschaftlichkeit treffen.“
Auch in Berlin und Baden-Württemberg warten die KVen nach eigener Aussage noch auf Vorgaben von Bundesebene. „Wir erhalten bereits Fragen von unseren Mitgliedern zu diesem Thema. Deswegen ist es auch für uns eine unzufriedenstellende Situation, da wir aufgrund der fehlenden Information wenig Auskunft geben können“, erklärt eine Sprecherin der KV Baden-Württemberg.
Unabhängig von dem vertraulichen Erstattungsbetrag gebe es jedoch sowohl zu Ozempic als auch zu Mounjaro bereits Prüfanträge, bei denen es aber eher um nicht übereinstimmende ICD10-Codierungen beziehungsweise die Nicht-Einhaltung der Fachinformation gehe.
In Berlin dagegen bewertet die KV das Regressrisiko als überschaubar, „da der Arzt sich hier nicht im engeren Sinne wirtschaftlich verhalten kann“, wie eine Sprecherin betont.
Die KV Nordrhein gibt ebenfalls an, noch auf entsprechende Rahmenvorgaben zu warten, konkret die Verhandlungen auf Bundesebene zu den Arzneimittelvereinbarungen 2026 zwischen KBV und GKV-Spitzenverband.
„Wir wissen jedoch nicht sicher, ob der vertrauliche Erstattungspreis in diesen Verhandlungen thematisiert werden wird“, räumt ein Sprecher auf Anfrage ein. „Andernfalls könnten sich der GKV-Spitzenverband und die KBV auf eine entsprechende Kommunikation abstimmen.“
Die KV Nordrhein rät Ärzten deshalb, nach bestem medizinischem Wissen und Gewissen zu verordnen. Um Einzelprüfanträgen zu begegnen sei es wichtig, dass die Praxen neben der entsprechenden Indikation auch die Vor- und Begleittherapie für Mounjaro beachteten, die passende Diagnose kodierten und diese mit der Abrechnung übermitteln würden.
Bisher habe es aber keine Einzelprüfanträge aufgrund gegebenenfalls günstigerer GLP-Analogon-Preise gegeben. „Bei einem vertraulichen Erstattungspreis gibt es dafür auch kein Aufgreifkriterium“, zeigt sich der KV-Sprecher zuversichtlich.
Wirkstoffvereinbarungen könnten Lösung sein
Eine Lösung könnten, zumindest in einigen Regionen, Wirkstoffvereinbarungen sein – die in den betreffenden Indikationen allerdings nur wenige KVen haben. So erklärt die KV Bremen, dass es bei ihr „keine etwaige Besonderheit“ bezüglich Mounjaro gebe, da sie mit einer Wirkstoffprüfung arbeite.
Bei dieser werde die KV nur auf Antrag tätig, wofür wiederum in der Regel eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Tagesdosen des betreffenden Wirkstoffs pro Patient mit der entsprechenden Diagnose das Kriterium sei.
Auch die KV Bayerns erklärt, für sie ergebe sich „zunächst kein akuter Handlungsbedarf“, da durch ihre Wirkstoffvereinbarung die Wirtschaftlichkeit über die Steuerung von Arzneistoffmengen in Tagestherapiedosen und nicht primär über die Steuerung von Arzneimittelkosten gewährleistet werde. „Dennoch werden wir die Thematik der vertraulichen Erstattungsbeträge mit den bayerischen Krankenkassen diskutieren“, betont ein Sprecher.
Kein Interesse an dieser Unsicherheit hat wiederum ein weiterer Akteur: Hersteller Eli Lilly. In einem Schreiben von Anfang Juli, das an zahlreiche Ärzte versendet wurde und dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt, betont der Konzern die Wirtschaftlichkeit seines Produktes.
„Eine Bewertung der Wirtschaftlichkeit im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen jeder Art, die den Listenpreis zu Grunde legen, ist nicht zielführend, weil der Listenpreis nicht die den Kostenträgern tatsächlich entstehenden Kosten widerspiegelt und über die Wirtschaftlichkeit keine Aussage treffen kann“, heißt es darin.
Das Unternehmen sei daher der Auffassung, „dass aktuell gültige Instrumente der Wirtschaftlichkeitsprüfung, die quantitative Vorgaben beziehungsweise Prüfkriterien basierend auf Arzneimittelkosten oder -ausgaben aufweisen, für Präparate mit vertraulichem Erstattungsbetrag nicht angewendet werden können“.
Eli Lilly werde Ärzte, die den Erstattungsbetrag nicht kennen werden, darüber aufklären, „dass der abgebildete Listenpreis für ihre wirtschaftlichen Erwägungen keine Rolle spielt“. Relevant sei nur der nicht einsehbare vertrauliche Erstattungsbetrag.
Deshalb stehe der einsehbare hohe Listenpreis einer Verordnung unter Einhaltung der notwendigen Rahmenbedingungen nicht im Wege: „Wir sind zuversichtlich, dass Sie das positive Kosten-Nutzen Verhältnis von Mounjaro wahrgenommen haben und entsprechend bei Ihrer Kommunikation sowie bei den Verfahren zur Verordnungsprüfung berücksichtigen werden.“
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