RKI-Chef Wieler: Pandemieaufarbeitung „unbedingt“ nötig

Berlin – Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) hält eine Aufarbeitung der Coronapandemie für geboten. „Unbedingt“ müsse es eine solche Analyse geben, sagte Lothar Wieler heute in einem Interview der Wochenzeitung Die Zeit.
„Als Wissenschaftler will ich wissen: Welche Maßnahmen waren adäquat, welche Kosten-Nutzen-Effekte gab es?“ Aber die Aufarbeitung müsse fundiert geschehen, „als saubere Analyse, denn wir müssen ja daraus für die Zukunft lernen“.
Bereits am Vorabend hatte Wieler bei einem Podiumsgespräch der Ludwig-Maximilians-Universität München die gleiche Forderung erhoben und dabei insbeondere betont, dass neben der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung auch fundierte Analysen von Fachleuten in den jeweiligen Bereichen notwendig seien.
Zur Aufarbeitung gehöre aber auch, Fehler und Versäumnisse klar zu benennen, die bereits vor Beginn der Pandemie zu verorten sind. So sei der Mangel an Atemschutzmasken zu Beginn der Pandemie nicht zwangsläufig gewesen.
„Es ist definitiv ein Versagen, dass man diese Vorräte nicht hatte“, sagte Wieler in München. Es wäre demnach auch Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen gewesen, dafür zu sorgen, dass es für Ärzte genügend Vorräte gibt, das sei sogar sozialrechtlich geregelt.
Es sei zudem großes Glück gewesen, dass die Eigenschaften von SARS-CoV-2 einen relativ glimpflichen Verlauf der Pandemie verursacht hätten. Global betrachtet habe die Letalität nur bei rund einem Prozent gelegen – es hätten auch drei oder fünf Prozent sein können, so Wieler.
Umso wichtiger sei es, auf Grundlage der gemachten Erfahrungen die richtigen Vorbereitungen für die nächste Pandemie zu treffen. Wann die komme, lasse sich nicht seriös abschätzen, doch die Wahrscheinlichkeit, dass es eher früher als später ist, steige kontinuierlich.
Einerseits nehme nämlich nicht nur die Anzahl der Menschen stetig zu, sondern auch ihre Mobilität. Insbesondere in Asien werde es in Zukunft noch viel mehr riesige Megastädte mit vielen Dutzenden Millionen Menschen auf engstem Raum geben und schließlich verändere der Klimawandel Habitate, was Gefahr von Spillovern erhöht.
„Wir haben den Intellekt und die Ressourcen auf der Welt, um dem nicht unvorbereitet gegenüberzustehen“, erklärte Wieler und plädierte für die Entwicklung eines Frühwarnsystems. „Wir haben viel gelernt und können optimistisch in die Zukunft schauen – wir dürfen nur nicht vergessen, was wir gelernt haben.“
Ähnlich wie Wieler schauen offenbar auch die Menschen in Deutschland auf die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der Pandemie: Eine Umfrage im Auftrag der Zeit zeigt, dass eine Mehrheit der rund 2.500 Befragten – 58 Prozent – sich für eine Aufarbeitung von Fehlentscheidungen im Umgang mit Corona ausspricht.
Auf die Wahrung der Interessen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie angesprochen, sagte der RKI-Chef unter anderem: „Wir haben immer Empfehlungen abgegeben, mit denen man den Betrieb in Schulen und Kitas hätte laufen lassen können, wenn auch unter Anstrengung.“
Es habe nie nur die Alternative gegeben: entweder wenige Tote oder Schulen offen halten. Der vorhandene Spielraum sei jedoch während der Pandemie „nicht ausreichend mit der nötigen Sorgfalt, Ruhe und Sachlichkeit“ betrachtet worden.
Anfangs sei auch nicht bekannt gewesen, in welchem Maß Kinder an Corona erkranken und inwieweit sie von Langzeitfolgen betroffen seien, gab Wieler zu bedenken. „Wir mussten auch sie schützen.“ Die Umsetzung sei Aufgabe der Politik und der Verantwortlichen vor Ort.
„Und es war immer klar, dass jede Maßnahme Nebenwirkungen hat“, sagte er der Zeit. Nach eigenen Fehlern in der Pandemie gefragt, sagte Wieler, er habe auch aus Überlastung zu wenige Gespräche geführt, um die komplexen Geschehnisse besser einzuordnen.
Das RKI und das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hatten kürzlich bekanntgegeben, dass Wieler das Institut ab April verlässt. Was er künftig genau machen wird, sagte er auch in der Zeit nicht.
Der Abschied vom RKI und der Zeitpunkt für diesen Schritt seien seine persönliche Entscheidung gewesen. Die Pandemie sei inzwischen beherrschbar. Das sei ein guter Zeitpunkt, um aufzuhören. Und er wolle noch einmal etwas Neues machen.
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