Politik

Streit um Mindestlohn: Ruf nach grundlegenden Reformen wird lauter

  • Freitag, 4. August 2023
/S. Engels, stock.adobe.com
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Berlin – Grüne, Gewerkschaften und Sozialverbände pochen auf Reformen für einen höheren Mindestlohn in Deutschland. Der Grünen-Sozialpolitiker Frank Bsirske forderte, die Lohnuntergrenze generell auf den Wert von 60 Prozent des mittleren Lohns zu fixieren.

DGB-Chefin Yasmin Fahimi verlangte eine Reform der Mindestlohnkommission. Die Arbeitgeber halten dage­gen. „Populismus mit der Lohntüte führt nur zu einer noch höheren Inflation“, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Er warnte vor neuerlichem Wahlkampf um die Lohnuntergrenze.

Der frühere Verdi-Chef Bsirske erinnerte an die Anfänge des Mindestlohns. „Das Kernmotiv war es, dass Arbeit nicht arm machen darf.“ Mit der beschlossenen Erhöhung von 12 auf 12,41 Euro im nächsten Jahr und auf 12,82 Euro 2025 werde dieses Ziel verfehlt, sagte der Bundestagsabgeordnete.

„Das bedeutet einen Rückfall vor 2015“, sagte Bsirske. Damals wurde die Lohnuntergrenze mit einer Höhe von zunächst 8,50 Euro brutto pro Stunde eingeführt.

„Die bisher beschlossene Anhebung des Mindestlohns um 41 Cent ab dem kommenden Jahr ist ein Schlag ins Gesicht von Millionen Beschäftigten im Niedriglohnsektor“, sagte die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele.

Die Mindestlohnkommission von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hatte ihren umstrittenen Beschluss kurz vor der Sommerpause gefasst – erstmals war die Gewerkschaftsseite aber von der unabhängigen Kommis­sionsvorsitzenden überstimmt worden. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte dennoch angekün­digt, die empfohlene Erhöhung per Verordnung umzusetzen.

„Die Arbeitgeber haben sich mit dem Durchdrücken ihrer Forderung in der Mindestlohnkommission keinen Gefallen getan, weil sie die Funktionsfähigkeit der Kommission infrage gestellt haben“, sagte DGB-Chefin Fahimi.

„Die EU-Mindestlohnrichtlinie sieht vor, dass sich die Mindestlöhne in jedem EU-Land an 60 Prozent des Me­dianlohns orientieren sollen“, sagte Fahimi. Beim Median- oder mittleren Einkommen gibt es genauso viele Menschen mit einem höheren wie mit einem niedrigeren Einkommen. Nach Fahimis Rechnung wären das kommendes Jahr 14,12 Euro, auch wenn noch nicht feststeht, wie hoch das mittlere Einkommen 2024 liegt.

Jedenfalls sei man von solchen Werten aber weit entfernt. „Und das ist ein Skandal“, sagte Fahimi. Seit Mo­naten belastet die anhaltende Inflation die Menschen. Im Juli stiegen die Preise um 6,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat.

Viele der Mindestlohnbezieher müssten aufstockende Leistungen durch das Bürgergeld beantragen. „Das heißt, wir finanzieren über Steuergelder Löhne, die nicht vor Armut schützen“, sagte Fahimi. „Im Prinzip ist das ein indirekter Kombilohn. Das lehnen wir ab.“

SPD-Chef Lars Klingbeil hatte nach der Kommissionsentscheidung bereits eine stärkere Erhöhung des Min­destlohns in Aussicht gestellt – und zwar unter Berufung auf die EU-Vorgaben auf 13,50 bis 14 Euro.

Allerdings gehen die Meinungen darüber auseinandern, wie weit die EU-Richtlinie reicht. „Um die dort ge­nannten Referenzwerte zu erreichen, müsste der Mindestlohn bereits heute bei 13,16 Euro (50 Prozent des Durchschnittslohns) bzw. 13,53 Euro (60 Prozent des Medianlohns) liegen“, hatte das Forschungsinstitut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung bereits im März festgestellt.

Kritiker der Gewerkschaftsposition betonen die Spielräume der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der EU-Vorgaben. „Die EU-Mindestlohnrichtlinie verändert die gesetzlichen Vorgaben für die Arbeit der Mindestlohn­kommission nicht“, sagte Arbeitgeberpräsident Dulger. „Ich bitte darum, die Arbeit der Kommission zu respek­tieren“, so Dulger. „Der Beschluss wurde juristisch genauso gefällt, wie es das Gesetz vorsieht.“

Um zu einer deutlichen Erhöhung der Lohnuntergrenze zu kommen, verlangt VdK-Chefin Bentele dringend ein Einschreiten der Regierung, „so wie sie es im vergangenen Jahr mit der Erhöhung des Mindestlohns per Ge­setz auf zwölf Euro gemacht hat“.

Fahimi und Bsirske dringen sogar auf grundlegendere Änderungen. Die Gewerkschafterin will geänderte Re­geln für die Mindestlohnkommission. „Es kann nicht sein, dass im Zweifelsfall eine der beiden Bänke über­stimmt wird“, sagte sie. „Die Rolle des Vorsitzes muss dringend neutralisiert werden.“ Komme eine gemeinsa­me Verständigung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite nicht zustande, „bedarf es eines echten Schlich­tungsverfahrens“.

Bsirske will die Festlegung des Mindestlohns gleich auf eine ganz neue Grundlage stellen. „Es muss gesetz­lich fixiert werden, dass der Mindestlohn auf 60 Prozent des Medianlohns definiert wird.“ Eine einmalige Er­höhung per Gesetz, wie von Bentele gefordert, würde aus Bsirskes Sicht magere Erhöhungsschritte in Zukunft nicht verhindern.

Dulger entgegnete solchen Forderungen: „Der Mindestlohn darf vor der nächsten Bundestagswahl nicht wieder zum Spielball der Politik werden.“ Im Übrigen bitte er, die Tarifautonomie zu beachten. „Diese wird Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch die Verfassung garantiert.“

dpa

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