Politik

Telefon- und Video-AU haben keinen Einfluss auf steigenden Krankenstand

  • Donnerstag, 2. Oktober 2025
/picture alliance, Hannes P Albert
/picture alliance, Hannes P Albert

Berlin – Telefonische und telemedizinische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (Tele- und Video-AU) sind nicht ursächlich für die steigende Zahl von Krankschreibungen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Auswertung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi).

In Politik und auf Arbeitgeberseite stehen Tele- und Video-AU seit Längerem in der Kritik. Nicht zuletzt der damalige Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sprach im vergangenen Jahr von einer „Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme“.

Im aktuellen Koalitionsvertrag findet sich die Absichtserklärung, die telefonische AU so zu verändern, dass ein Missbrauch künftig ausgeschlossen ist. Auch der Bund der Arbeitgeber (BDA) fordert eine Abschaffung zumindest der telefonischen AU.

Zahlen, die das Zi gestern vorgelegt hat, zufolge lässt sich jedoch weder eine solche Korrelation noch eine Kausalität nachweisen. Zwar lasse sich zwischen 2021 und 2023 tatsächlich ein massiver Anstieg der Krankschreibungen beobachten. Demnach lag die Anzahl an AU-Fällen bei den größten Krankenkassen im Jahr 2021 zwischen 95 und 149 Fällen pro 100 Versichertenjahren und im Jahr 2023 zwischen 181 und 225 Fällen pro 100 Versichertenjahren – ein Anstieg von bis zu 95 Prozent.

Allerdings kommt das Zi in einer Analyse von pseudonymisierten Arbeitsunfähigkeits- und vertragsärztlichen Abrechnungsdaten der BARMER für die Jahre 2020 bis 2023 zu dem Schluss, dass sich keine Hinweise dafür finden, dass Tele- und Video-AU für diesen Anstieg verantwortlich sind.

So liege der Anteil der Tele-AU bei gerade einmal 0,8 bis 1,2 Prozent an allen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, der Anteil der Video-AU liege mit 0,1 bis 0,4 Prozent sogar noch einmal deutlich darunter.

Während der Anteil der Video-AU von 0,1 Prozent 2020 auf 0,4 Prozent 2023 kontinuierlich gestiegen ist, lasse sich bei der Tele-AU nicht einmal das beobachten. Ihr Anteil stieg von 0,8 Prozent 2020 auf 1,2 Prozent 2022 und fiel danach wieder auf 0,9 Prozent.

„0,4 Prozent ist nichts. Bei solchen Anteilen kann man nicht davon ausgehen, dass der Anstieg der AUs gesamt davon beeinflusst wurde“, erklärte Sandra Mangiapane, Leiterin des Referats Grundsatzfragen beim Zi. „Beide Befunde sprechen für uns gegen die Hypothese, dass es einen Zusammenhang zwischen der Video- und Tele-AU sowie dem Anstieg der AU-Zahlen gibt.“

Die wahrscheinlicheren Ursachen für den Anstieg des Krankenstandes seit 2021 seien an anderen Stellen zu suchen. So habe das erhöhte Infektionsgeschehen ab dem Winter 2021/22 einen viel größeren Einfluss auf die Zahl der ausgestellten AU gehabt.

Zahlen des Zi zufolge seien 58 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2022 und 41 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2023 durch akute Infektionen der Atemwege sowie Coronainfektionen zu erklären.

Möglicherweise noch größer war aber der Effekt der Einführung elektronischer AU (eAU) im Jahr 2022. Es müsse vermutet werden, dass die Übermittlung von AU an die Krankenkassen vor der Umstellung auf die digitale Übermittlung vor allem bei kurzzeitigen Krankschreibungen nur sehr unvollständig erfolgte.

Diese These werde von einer Analyse des IGES-Instituts im Auftrag der DAK gestützt. Demnach können 60 Prozent der zusätzlichen Fehltage durch die nun vollständige Übermittlung erklärt werden. „Insofern kann man das als Meldeeffekt verbuchen“, sagte Mangiapane.

„Leider kann ich keine Entwarnung geben. Aus Arbeitgebersicht gibt es weiter ein Problem, das wir angehen müssen“, wandte demgegenüber Susanne Wagenmann ein, Abteilungsleiterin Soziale Sicherung beim BDA.

Nach aktuellen Umfragen der Krankenkassen würden sich 8 bis 10 Prozent bei einer „Bettkantenentscheidung“ – wenn sie sich also nicht sicher seien, ob sie arbeitsfähig sind oder nicht – krankschreiben lassen.

Um diese Zahlen zu senken, müssten Missbrauchsmöglichkeiten so weit wie möglich reduziert werden. Zwar könne die Video-AU eine Ergänzung des persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts sein, die telefonische AU müsse aber wegen ihres Missbrauchspotenzials abgeschafft werden, forderte sie.

Den Arbeitgebern seien allein im Jahr 2024 durch die Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall Kosten in Höhe von 82 Milliarden Euro entstanden. Allein schon aufgrund der hohen Kosten müssten sich die Arbeitgeber auf den hohen Beweiswert der AU verlassen können. „Ärzte müssen AU sehr verantwortungsvoll ausstellen“, unterstrich sie.

Davon erhielt sie von ärztlicher und Kassenseite keine Zustimmung. „Ich sehe die Tele-AU als absoluten Erfolg an“, erklärte Eckart Lummert, niedergelassener Hausarzt in Uetze bei Hannover.

Seine persönliche Erfahrung würde sich mit den vorgelegten Zahlen decken, beispielsweise im Fall der Infektionswellen in Herbst und Winter. „Bei mir spielen Tele- und Video-AU in den Sommermonaten fast gar keine Rolle.“

Auch den Vorschlag einer Abschaffung der telefonischen bei Beibehaltung der telemedizinischen AU wies er zurück. Insbesondere für ältere Patientinnen und Patienten, die sich in neuen Medien nicht zurechtfinden, sei das Angebot einer telefonischen Krankschreibung sinnvoll.

Wenn etwas ärgerlich wäre, dann eher die geringe Inanspruchnahme des Angebots bei gleichzeitigem Aufwand für dessen Bereitstellung. „Ich halte Tele- und Video-AU für verschwindend gering. Und trotzdem bemüht man sich um hohe Professionalität“, sagte er.

Anne-Kathrin Klemm, seit Juli alleinige Vorstandsvorsitzende des BKK-Dachverbands, forderte mehr Transparenz bei der Ausstellung telefonischer AU, betonte aber auch: „Schwarze Schafe gibt es überall, die muss man natürlich einschränken. Aber im Großen und Ganzen glaube ich nicht, dass die Tele-AU ausgenutzt wird.“

Auch sie halte telefonische und telemedizinische AU für ein Erfolgsprojekt, das durchaus wichtig sei mit Blick auf Diskussionen um Entlastung von Praxen und Notfallambulanzen.

Sie könne aus Arbeitgebersicht gut verstehen, dass man die Rechnung aufmacht, wie viel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kostet – allerdings habe auch das betriebliche Gesundheitsmanagement einen erheblichen Einfluss auf die Krankenstände.

„Dort, wo ein gutes Betriebsklima und eine gute Vertrauenskultur sind, ist das AU-Niveau niedriger“, betonte sie. „AU-Zeiten gehen sehr wohl auch damit einher, wie wohl sich jemand an seinem Arbeitsplatz fühlt.“

lau

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung