Wissenschaftsrat: Zehn Herausforderungen für krisenfeste Forschung

Berlin – Die Pandemie hat neue und alte Schwachpunkte des deutschen Wissenschaftssystems aufgezeigt. Es mangele an sicherer Finanzierung, digitaler Vernetzung und schneller Translation der Erkenntnisse in die Versorgung. So lautete die Kritik in einem diese Woche veröffentlichten Positionspapier des Wissenschaftsrates der Bundesregierung. Er sieht daher dringenden Handlungsbedarf.
Die SARS-CoV-2-Pandemie markiere eine „historische Zäsur“, deren Ausmaß noch nicht gänzlich abschätzbar sei, schrieben die Autoren des Positionspapiers. Es trägt den Titel „Impulse aus der COVID-19-Krise für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland“ und enthält zehn Problemfelder sowie jeweils erste Verbesserungsvorschläge.
Aus den Erfahrungen in und mit der Pandemie würden „Chancen für einen gesellschaftlichen Wandel“ erwachsen. Denn es seien „viele Gewissheiten erschüttert worden, so dass die Möglichkeit eröffnet wird, grundlegende Neuorientierungen des Wissenschaftssystems anzustoßen“, heißt es in der 73-seitigen Ausarbeitung. Einige altbekannte Kritikpunkte hätten sich im vergangenen Jahr bestätigt, andere Webfehler des Systems seien neu erkannt worden.
Der Wissenschaftsrat sieht darüber hinaus seinen Eindruck bestätigt, „dass eine quantitative Steigerung der Wissensproduktion zulasten der Qualität von Forschung gehen kann“. Die Leistungssteigerung der Wissenschaft in den vergangenen Jahren werde vielfach auf eine verstärkte Wettbewerbsorientierung zurückgeführt.
Doch auch die „Kehrseiten von ökonomischer Liberalisierung und globaler Vernetzung“ seien in der SARS-CoV-2-Krise deutlich geworden, unter anderem in „einseitigen Abhängigkeiten in der Medikamentenproduktion oder der Vernachlässigung bestimmter öffentlicher Güter“, so die Autoren.
Das werfe die Frage auf, „ob die im Wissenschaftssystem derzeit dominanten Steuerungsmechanismen in der Summe dazu führen, dass Ressourcen angemessen auf die gesellschaftlich bedeutenden Funktionen des Wissenschaftssystems verteilt werden.“
Die bereits angestoßenen Transformationsprozesse – beispielsweise in der Digitalisierung – würden die politisch Verantwortlichen weiterhin unter hohen Entscheidungsdruck stellen. Doch hätte sich die Politik in der COVID-19-Krise gewillt gezeigt, „deutlicher und sichtbarer als im Regelfall“ wissenschaftliche Erkenntnisse, Prognosen und Szenarien in ihre politische Entscheidungsfindung mit einzubeziehen.
Damit eröffne sich die Möglichkeit, „die Steuerung neu auszutarieren“ und eine „angemessenere Balance“ in der Ressourcenverteilung zu finden. Besonders jene Elemente des öffentlich geförderten Wissenschaftssystems, „die auch in Krisenzeiten seine Responsivität und Leistungsfähigkeit sicherstellen“, müssten künftig besser abgebildet werden, um ein resilientes Wissenschaftssystem zu schaffen.
Seine zehn beschriebenen Herausforderungen fasste der Rat in vier Themenfeldern zusammen: das Zusammenwirken von Politik und Öffentlichkeit, die Auswirkungen und Hindernisse der Digitalisierung, die zukünftige Finanzierung der Wissenschaft und die Positionierung Deutschlands in der internationalen Forschung.
Darunter finden sich beispielsweise Wünsche nach krisenfesten Strukturen für die wissenschaftliche Politikberatung oder nach klaren Regeln für den wechselseitigen Austausch und die Nutzung von Forschungs- und Versorgungsdaten. An Hochschulen und Forschungseinrichtungen benötige es zudem dringend regulatorischer, technischer, organisatorischer und personeller Ressourcen, um die Digitalisierung voranzutreiben.
Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) begrüßte, dass der Wissenschaftsrat „zeitnah die Herausforderungen und Handlungsbedarfe für die Wissenschaft in Deutschland in zehn Punkten klar analysiert und aufbereitet“ habe. Das Papier setze „wertvolle Impulse zur Weiterentwicklung der Internationalisierung und der zugehörigen Digitalisierung“, sagte DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee in einer Stellungnahme.
Erneuter Ruf nach Pandemierat
Mit den Empfehlungen zur Verbesserung der wissenschaftlichen Politikberatung sehen die Grünen ihr Begehren nach einem Pandemierat bestärkt. Ein wissenschaftlicher Pandemierat könne eine Versachlichung der Diskussion befördern und Verschwörungsideologien und Desinformationskampagnen die Grundlage entziehen, heißt es in dem Antrag der Fraktion, der im Juni 2020 angenommen wurde. Der Wissenschaftsrat der Bundesregierung schlage mit seinem Positionspapier „in die gleiche Kerbe“, schrieb die Bundestagsfraktion der Partei.
Die Bundesärztekammer hatte sich in der vergangenen Woche ebenfalls für einen ständigen multiprofessionellen Pandemierat ausgesprochen. Bund und Länder könnten so auf die Expertise von Ärzten, Ethikern, Soziologen und Fachleuten weiterer Disziplinen zurückgreifen. „Das würde die Entscheidungen der Politik auf eine solide wissenschaftliche Grundlage stellen und die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung stärken“, erklärte BÄK-Präsident Klaus Reinhardt.
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