Experten setzen sich für Kulturwandel in der Geburtshilfe ein

Berlin – Ein Kulturwandel in der Geburtshilfe ist Fachleuten zufolge dringend notwendig, um den Bedürfnissen von Gebärenden ausreichend gerecht zu werden. Die Frauen sollen im Mittelpunkt stehen und ihre Sichtweisen berücksichtigt werden.
Dafür sprach sich Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, gestern in einem Fachgespräch aus. Dabei diskutierten Expertinnen und Experten über die Nationalen Gesundheitsziele zur Gesundheit rund um die Geburt.
Die Probleme in der Geburtshilfe seien in den vergangenen Jahren gravierender geworden, sagte Thomas Altgeld, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie der Sozialmedizin in Niedersachsen und Bremen.
Es komme zunehmend zu Schließungen geburtshilflicher Abteilungen und zur Zentralisierung der Geburtshilfe aufgrund von Mindestmengenvorgaben und ökonomischen Fehlanreizen. Und dies, obwohl 2023 und 2024 insgesamt 240 Millionen Euro zusätzlicher Investitionen in den Bereich geflossen seien.
Mindestmengen gibt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beispielweise bei der Versorgung von Früh- und Reifgeborenen mit einem Aufnahmegewicht unter 1.250 Gramm vor, um eine gewisse Behandlungsqualität zu gewährleisten.
Der Fachkräftemangel, insbesondere unter den Hebammen, Pädiatern und Kinderkrankenpflegern, spitze sich weiter zu, berichtete Altgeld. Es gebe eine Flut interessengeleiteter Information bei einem gleichzeitigen Mangel an unabhängigen, qualitätsgesicherten Informationen rund um die Geburt.
Die Forderungen nach einem grundlegenden Kulturwandel in der Geburtshilfe und nach effektiveren Interessenvertretungen von Eltern und Hebammen würden lauter.
Kappert-Gonther begrüßte das bereits 2017 verabschiedete Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“, das von Experten des Kooperationsverbundes gesundheitsziele.de erstellt worden war. Darin geht es um die Schwangerschaft, Geburt, das Wochenbett und die Entwicklungsphase im ersten Lebensjahr.
Festgelegte Ziele sind unter anderem die Förderung der Bindung zwischen Eltern und Kind, gesunde Lebensverhältnisse, soziale Sicherheit sowie die Vermeidung von Unfallgefahren und elterlichen Überforderungssituationen durch frühe und passgenaue Hilfen.
Aktionsplan „Gesundheit rund um die Geburt“
Im September vergangenen Jahres hatte sich das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in einer Fachanhörung mit dem Entwurf eines Aktionsplans zur Umsetzung des Nationalen Gesundheitsziels beschäftigt. Der im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarte Aktionsplan werde in Kürze veröffentlicht und sei ein weiterer Meilenstein, sagte Silke Heinemann vom BMG in dem Fachgespräch.
Vom Kooperationsverbund war bereits der Entwurf inhaltlich als nicht ausreichend erachtet worden. Kritische Töne kamen nun auch von Ulrike Hauffe vom Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft, die zudem für den GKV-Spitzenverband im G-BA sitzt. Dass das im BMG „gereifte“ Papier „nicht ganz unseren Wünschen“ entspreche, sei zu erwarten, sagte sie.
Hauffe machte deutlich, dass eine Einbeziehung weiterer Bundesministerien sinnvoll sei, da die Themen in verschiedene Bereiche hineinragten. So gebe es etwa deutliche frauen- und familienpolitische Implikationen des Gesundheitsziels.
Kappert-Gonther sprach sich dafür aus, das Gesundheitsziel zur Geburt im Zuge der Krankenhausstrukturreform umzusetzen. Allerdings müssten dafür konkrete Voraussetzungen wie ein Zeit- und Finanzierungsplan geschaffen werden. Zur Umsetzung könne sie sich eine zentrale Koordinierungsstelle im BMG vorstellen, so Kappert-Gonther.
Im Rahmen des Nationalen Gesundheitsziels müsse vor allem die Rolle der Hebammen gestärkt und hebammengeleitete Kreißsäle implementiert werden, betonte die amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses. Es müssten zudem Strategien entwickelt werden, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Geeignete Pläne, um den Auswirkungen des Klimawandels auf die Geburtshilfe entgegenzuwirken und damit Früh-, Fehl- und Todgeburten bei Hitzespitzen zu verhindern, seien ebenfalls dringend notwendig, sagte Kappert-Gonther.
Mehr Offenheit für neue Ideen gefordert
Rainhild Schäfers vom Institut für Hebammenwissenschaft an der medizinischen Fakultät der Universität Münster würdigte das Gesundheitsziel als „großartig“, mahnte aber eine größere Offenheit für neue Konzepte an. Als Beispiel nannte sie die Gruppenschwangerenvorsorge, die in Studien positive Effekte gezeigt habe. Dabei träfen sich acht bis zwölf Schwangere monatlich mit einer Hebamme, um verschiedene Themen zu besprechen und um untereinander Fragen zu beantworten.
Die Hebamme greife nur bei falschen oder fehlenden Informationen ein und führe hinter einem Sichtschutz Kontrollen zum Wachstum und Wohlbefinden des Kindes durch. Blutdruck, Gewicht und Urin kontrollierten die Schwangeren gegenseitig. Schäfers schlug etwa Pilotprojekte vor, um zu prüfen, ob sich ein solches Konzept auch hierzulande umsetzen lasse.
Problem fehlender Fachkräfte in der Fläche
Sehr viel von dem, was in den vergangenen Jahren besprochen worden sei, sehe er mittlerweile realisiert, sagte Ekkehard Schleußner von der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena und der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin. Er nannte mehrere bereits veröffentlichte sowie geplante Leitlinien.
Zudem habe sich die interprofessionelle Zusammenarbeit deutlich weiterentwickelt und die Entwicklung der Hebammenkreißsäle Fahrt aufgenommen. Als Herausforderung nannte Schleußner, dass die Geburtshilfe in Teilen Deutschlands, etwa in ländlichen Gebieten, nicht mehr in gewohnter Weise gewährleistet sei. „Dafür müssen wir Lösungen finden“.
Unterstützung insbesondere für sozial Benachteiligte
Mechthild Paul vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hob die Bedeutung der Schwangerschaft und des ersten Lebensjahres für ein gesundes Aufwachsen von Kindern hervor.
Stress der Mutter und die soziale Lage etwa wirkten sich erheblich auf die Entwicklung des Kindes aus. Bei dem Thema gebe es ein Umsetzungsdefizit. „Wir leisten es uns, dass wir 25 Prozent der Kinder von Anfang an systematisch aufgrund der sozialen Lage abhängen. Das ist wirklich gravierend“.
Paul mahnte an, dass man aufhören müsse, vom System her zu denken, vielmehr müsse die Versorgungsidee von Kindern, Müttern und Vätern ausgehen. Lotsendienste seien wichtig, um etwa sozial Benachteiligten Wege zu Unterstützungsangeboten zu weisen. Paul zufolge werden zudem gebündelte, evidenzbasierte Informationen in leichter, verständlicher Sprache und „sprechende Medizin“ benötigt, gerade für sozial benachteiligte Klientel.
Katharina Desery vom Verein Mother Hood und dem Bündnis Gute Geburt sagte, dass Elternorganisationen große Hoffnungen in das Gesundheitsziel gesetzt hätten. Kernpunkt sei für sie die frau-/familienzententrierte Geburtshilfe, was oftmals aber schwer zu verstehen sei.
Entscheidend sei für sie: Frauen und gebärende Personen hätten während der Geburt Rechte. „Mir ist wichtig zu betonen, dass diese Rechte nicht im Gegensatz zum Kindeswohl stehen“. Selbstbestimmte Entscheidungen gemeinsam mit den Geburtshelfenden seien grundlegend.
Das Thema seelische Gesundheit hob Kappert-Gonther unter anderem noch hervor: Es sei in der Geburtshilfe noch viel zu wenig im Fokus. Sie sprach von relevanten Problemlagen etwa bei Frauen, die während der Schwangerschaft psychische Drucksituationen erlebten, die psychisch krank schwanger würden oder die mit Depressionen nach der Geburt zu kämpfen hätten. Dafür brauche es gute Strukturen und adäquate Hilfen.
Hauffe betonte abschließend, dass das Thema in derzeitigen gesundheitspolitischen Debatten unterbewertet sei, obwohl die Geburt der häufigste Grund in Deutschland sei, ein Krankenhaus aufzusuchen. Der benötigte Kulturwandel bedeute auch, dass sich eine zu verändernde gesellschaftliche Wertigkeit von Familien auch in politischem Handeln ausdrücken müsse. „Da haben wir, ehrlich gesagt, ziemlich viel Handlungsbedarf“, sagte sie.
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