Vermischtes

Weihnachtszeit fordert Alkoholkranke und ihr Umfeld heraus

  • Montag, 23. Dezember 2024
/natali_mis, stock.adobe.com
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München – „Bei uns stand immer Bier auf dem Wohnzimmertisch. Denn Alkohol zu trinken – das galt als normal“, berichtet Elisabeth. „Alkoholgetränkt“ seien in ihrer Familie auch stets die Weihnachtsfeiertage verlaufen – der Vollrausch unter dem Christbaum sei keine Ausnahme gewesen.

Elisabeth, die schon als Jugendliche die Kontrolle über ihren Alkoholkonsum verlor, ist eine von rund 25.000 Erkrankten deutschlandweit, die regelmäßig an Treffen der Selbsthilfeorganisation Anonyme Alkoholiker (AA) teilnehmen. Diese machen nun darauf aufmerksam, welch enorme Herausforderung die Weihnachtszeit und der Jahreswechsel für Menschen mit einem Alkoholproblem darstellen.

„Die Alltagsroutine ist an den Feiertagen ausgehebelt“, sagte Jürgen Hoß, erster Vorsitzender der Anonymen Alkoholiker. „Dabei gibt sie vielen trockenen Trinkern den nötigen Halt.“ Zugleich setzten viele Menschen große Erwartungen in diese Zeit; es herrsche ein hoher gesellschaftlicher Druck, der Fröhlichkeit und Harmonie im Kreis der Liebsten „verordne“. Gerade an Weihnachten seien aber häufig Konflikte vorprogrammiert.

Um bei schlechter Stimmung eine Auszeit zu ermöglichen und zu verhindern, dass Menschen frustriert zur Flasche greift, erweitern die Anonymen Alkoholiker in diesem Jahr erstmals ihre Angebote.

So bleiben in allen Ballungszentren die Kontaktstellen an Heiligabend und den Weihnachtsfeiertagen geöffnet; auch die wöchentlichen Gruppentreffen finden weiterhin statt. Morgenmeditationen, Online-Meetings und eine „trockene“ Silvesterfeier ergänzen das Angebot. Letztere soll einen sicheren Raum bieten, um zum Jahreswechsel gemeinsam nüchtern bleiben zu können.

Rund 7,9 Millionen Menschen im Alter von 18 bis 64 Jahren konsumieren in Deutschland Alkohol in gesund­heit­lich riskanter Form. Etwa 1,6 Millionen gelten als abhängig. Dabei ist Alkoholismus eine Sucht, die unabhängig vom Einkommen oder sozialen Status auftritt und die – wissenschaftlich betrachtet – nicht heilbar ist.

Da die Erkrankung dauerhaft Spuren im Gehirn hinterlässt, begleitet sie Betroffene auch dann noch im Verborge­nen, wenn diese schon lange abstinent leben. Eine Tasse Glühwein auf dem Christkindlmarkt oder ein Gläschen Champagner zum neuen Jahr können genügen, um sie wieder zum Ausbruch zu bringen.

Absolut nüchtern zu bleiben und anderen zur Nüchternheit zu verhelfen, ist deshalb erklärtes Ziel all derer, die freiwillig eine der deutschlandweit 1.580 Präsenz-Gruppen oder eine der 230 Online-Gemeinschaften von AA besuchen.

Ihre Erfahrungen mit Gleichgesinnten teilen und regelmäßig Kraft für den Alltag schöpfen – das ist nicht nur für alkoholkranke Menschen selbst wichtig; auch ihre Angehörigen und Freunde brauchen gezielte Unterstützung. Denn häufig decken sie das übermäßige Trinken des Betroffenen und nehmen ihm die Verantwortung für sein Verhalten ab.

Sie bezahlen etwa Rechnungen, vertrösten den Chef des Kranken oder versuchen, das Trinkverhalten zu kon­trollieren; sie verlieren – zwanghaft fixiert auf die Notlage des Suchtkranken – den Kontakt zu ihren eigenen Bedürfnissen. Häufig entwickeln sie infolgedessen selbst krankhafte Verhaltensweisen oder psychosomatische Störungen.

So ging es auch Sara, die mit einem alkoholabhängigen Vater aufwuchs, und die aus Rücksicht auf ihre ohnehin schon belastete Mutter nie auf die Idee gekommen wäre, eigene Wünsche anzumelden. Als „unauffällig, angepasst und bedürfnislos“ beschreibt sich die junge Frau, die nach einer schweren Depression eine der rund 500 Al-Anon-Familiengruppen in Deutschland aufsuchte. Dort wird in den regelmäßigen Treffen nach einem ähnlichen Zwölf-Schritte-Programm wie bei AA gearbeitet, und Sara hat gelernt, Grenzen zu setzen und ihr eigenes, vernachlässigtes Leben wieder in den Griff zu bekommen.

„Die Selbsthilfegruppen von AA und Al-Anon können durchaus Techniken an die Hand geben, um mit schwierigen Situationen zurechtzukommen“, sagte Christoph Hiendl, Facharzt für Allgemeinmedizin und Professor für Gesundheitswissenschaften in Eichstätt. Eine Blaupause für das eigene Leben könne allerdings keine der beiden Organisationen liefern. Und letztlich, da sind sich Elisabeth und Sara einig, könne auch keiner die Gesellschaft verändern, in der Alkohol allzu oft verharmlost oder gar verherrlicht werde.

kna

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