Sachverständigenrat diskutiert über Arzneimittel und Medizinprodukte

Berlin – „Die Verfügbarkeit von evidenzbasiertem Wissen ist unabdingbar“. Mit diesem Hinweis forderte Petra Thürmann die Einrichtung eines unabhängigen Institutes, das Ärzten und Pflegekräften evidenzbasierte, neutrale Informationen über einen niedrigschwelligen Zugang zur Verfügung stellt. Thürmann ist Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) und Vorstandsmitglied in der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Der Rat diskutierte gestern in Berlin unter anderem mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) über sein aktuelles Gutachten.
Die USA, Norwegen und Kanada investierten sehr viel Geld, damit Ärzten und Pflegekräften evidenzbasierte, neutrale Informationen zur Verfügung gestellt werden könnten, so Thürmann weiter. Denn kein Mensch könne 20.000 neue randomisierte kontrollierte Studien pro Jahr lesen. Es sei sehr bedauerlich, dass es in Deutschland ein solches Institut nicht gebe.
Europaweite Harmonisierung der Arzneimittelzulassung
Zudem sprach sie sich für eine europaweite Harmonisierung der Arzneimittelzulassung aus. Denn „wir können uns nicht 20 Institute leisten, die alle die Studienevidenz durchkauen“.
Der Sachverständigenrat kritisierte zudem die Entscheidung der Bundesregierung, den sogenannten Bestandsmarktaufruf zu beenden. „Wir halten eine Bewertung des Bestandsmarktes für sinnvoll“, betonte Thürmann. „Dort haben wir noch einiges an Schätzen, die uns noch lange begleiten werden, bis ihr Patentschutz abläuft.“ Diese kämen im Vergleich zu den neuen Arzneimitteln, die gemäß Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) nun eine Nutzenbewertung erhielten, ungeschoren davon. Die klinische Pharmakologin wies zugleich darauf hin, dass eine Bewertung von Arzneimitteln aus dem Bestandsmarkt dennoch auch heute möglich sei.
Ein „erheblicher Kritikpunkt“ sei darüber hinaus, dass die Ergebnisse von Kosten-Nutzen-Analysen neuer Arzneimittel im Rahmen des AMNOG-Verfahrens nicht mit in die Preisverhandlungen dieser Medikamente Eingang finden könnten.
Verpflichtendes Melderegister zu Lieferengpässen von Arzneimitteln
Um künftig Lieferengpässen von Arzneimitteln vorzubeugen, schlägt der Rat vor, das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bestehende Melderegister zu aktuellen Lieferengpässen von Arzneimitteln verpflichtend zu gestalten. An ihrem Krankenhaus, erklärte Thürmann, ständen einige Arzneimittel nicht mehr zur Verfügung, zum Beispiel Midazolam zur oralen Anwendung – ein „Allerweltsmittel“ zur Beruhigung vor operativen Eingriffen. „Wir müssen nun etwas geben, das länger wirkt oder wir müssen Midazolam intravenös verabreichen“, sagte Thürmann.
Rat spricht sich für eine zentrale Zulassung von Medizinprodukten aus
Der stellvertretende Vorsitzende des Rates, Eberhard Wille von der Universität Mannheim, kritisierte die derzeit geltenden Regelungen zur Zulassung von Medizinprodukten. „Heute können die Hersteller aus circa 73 ‚Benannten Stellen‘ in Europa eine wählen, bei der sie ihr Produkt zulassen wollen“, sagte Wille. „Ich möchte bezweifeln, dass die geltenden Vorschriften dabei einheitlich exekutiert werden. Das ist nicht einmal innerhalb Deutschlands so.“
Bei der Zulassung von Medizinprodukten gebe es zudem eine deutlich geringere Transparenz als bei Arzneimitteln. Denn es genüge zum Beispiel, die technische Äquivalenz eines Medizinproduktes zu einem bereits zugelassenen nachzuweisen. Eine klinische Prüfung sei dann nicht mehr notwendig. Auch fehlten Mindestanforderungen hinsichtlich der Vollständigkeit der Daten und des Studiendesigns.
„Die EU-Kommission hat gerade ein Gutachten veröffentlicht“, berichtete Wille. „Seit dem Skandal um fehlerhafte Brustimplantate der Firma PIP hat sich relativ wenig getan. Angesichts der offensichtlichen Defizite sind im vergangenen Jahr relativ wenig Änderungen eingetreten.“
Er verwies auf die USA, wo es eine zentrale Regulierung durch die FDA gebe: „Bei Medizinprodukten mit hohen Risiken fordert die FDA umfangreiche klinische Prüfungen, zu denen auch belastbare Nutzen-Risiko-Analysen gehören. Der Vorschlag des Rates geht in die Richtung der amerikanischen Zulassung.“
Medizinprodukte: zusätzliche Vergütung nur bei Zusatznutzen
Die Bundesregierung habe eine Erhöhung der Anforderungen an die Benannten Stellen vorgeschlagen, zum Beispiel in Bezug auf deren klinische Expertise, sowie ein strengeres EU-weites Bewertungsverfahren und engmaschige Kontrollen, erklärte Wille. Im Vergleich zum Status quo wäre das unstrittig eine Verbesserung. Dennoch blieben Anreizprobleme. „Denn die ‚Benannten Stellen‘ sind privatwirtschaftlich tätig“, betonte Wille. „Solche Probleme hätte die EMA nicht, wenn diese eine zentrale Zulassung vornehmen würde.“
Der Rat schlägt vor, bei Hochrisikoprodukten die Erstattungsfähigkeit neuer Medizinprodukte nur im stationären Bereich und nur nach einer Prüfung der Patientenverträglichkeit und des Nutzens vorzunehmen. Wenn ein Zusatznutzen belegt sei, solle dieser auch in angemessener Weise durch eine zusätzliche Vergütung oder durch einen anderen Unterlagenschutz zum Ausdruck kommen.
„Die Medizinprodukte werden überwiegend von mittelständischen Unternehmen in Deutschland produziert“, erklärte Wille. „Deutschland ist weltweit der drittgrößte Produzent nach den USA und Japan und der zweitgrößte Exporteur. Die Branche hat eine beachtliche Performance. Es ist nicht die Absicht des Rates, daran etwas zu ändern.“
„Die größten Bremser sind wir selbst“
Bei der anschließenden Diskussion wurde der Vorsitzende des SVR, Ferdinand Gerlach, gefragt, wer die größten Bremser im System seien, wenn es um die Einführung von innovativen Lösungen für Versorgungsprobleme gehe. „Das größte Hindernis steckt in den Köpfen“, erklärte Gerlach. „Vieles, das wir vorschlagen, muss einfach einmal gedacht werden. Vieles bedarf keiner Gesetzesänderung. Es bedarf nur des Willens der Beteiligten. Die größten Bremser sind wir selbst.“
Dort, wo die Unterversorgung am stärksten sei, so Gerlach weiter, sei der Wille zur Veränderung am größten. Je größer der Druck werde, umso eher bewege sich etwas. „Vielleicht ist die Saturiertheit, das Einrichten in den bestehenden Verhältnissen das größte Problem“, schloss Gerlach.
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