SARS-CoV-2: Gibt es 2 unterschiedliche Virusstämme?

Berlin – Das Erbgut von Viren verändert sich im Verlauf eines Ausbruchs. Viele Mutationen bleiben ohne Folgen, weil sie die Aminosäure-Sequenz der Proteine nicht verändern (für einzelne Aminosäuren gibt es im genetischen Code mehrere Baupläne). Man bezeichnet sie als synonyme Mutationen.
Es gibt aber auch non-synonyme Mutationen, die die Proteine verändern. Allerdings bedeutet nicht gleich jeder Austausch einer Aminosäure in einem Protein, dass sich deren Funktion verändert und dass sich dies nur Viren auf die Ansteckungsfähigkeit (Virulenz) oder die schädliche Wirkung auf den Organismus (Pathogenität) auswirkt.
Das Erbgut des neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) hat sich seit den ersten Erkrankungsfällen genetisch verändert. Ein Team um Jian Lu von der Universität Peking hat in der vergangenen Woche in National Science Review die Hypothese aufgestellt, dass sich 2 Stämme von unterschiedlicher „Aggressivität“ gebildet haben.
Die Forscher bezeichnen sie als L- und S-Typ. Im L-Typ wird an einer bestimmten Stelle des Virusgenoms die Aminosäure Leucin kodiert, beim S-Typ ist es die Aminosäure Serin. Eine einzelne Mutation kann erhebliche Auswirkungen haben. Beim Menschen können sie über gesund oder krank entscheiden oder sogar das Überleben infrage stellen. Welche Auswirkungen der Aminosäure-Austausch auf die Virulenz oder Pathogenität von SARS-CoV-2 hat, ist unklar.
Der L-Typ hat einen Anteil von 70 %. Er wurde vor allem zu Beginn der Mutation in Wuhan beobachtet. Dort verliefen die Erkrankungen häufiger tödlich. Lu vermutet deshalb, dass der L-Typ eine höhere „Aggressivität“ hat. Inzwischen soll sich der S-Typ durchgesetzt haben.
Er wird häufiger bei Menschen gefunden, die sich außerhalb von Wuhan angesteckt haben, wo die Erkrankungen weniger schwer verlaufen. Die Forscher verfügten allerdings nicht über klinische Daten zu den Patienten, bei denen die beiden Typen isoliert wurden. Die Aussage, dass der L-Typ „aggressiver“ sei, basiert allein auf der geografischen Herkunft.
Die Studie hat einigen Wirbel ausgelöst. Nachdem das Science Media Center London das Thema aufgegriffen hatte, berichtete der New Scientist differenziert darüber. In den britischen Medien wurde die Botschaft aber so verstanden, als herrsche bereits Einigkeit darüber, dass sich 2 Stämme unabhängig voneinander ausbreiten. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit hatte sich die Gefahr damit praktisch verdoppelt.
Virusforscher zeigten sich verärgert. Oscar MacLean vom MRC-Centre for Virus Research der Universität Glasgow legte auf virological.org dar, warum aus seiner Sicht weder von 2 Virusstämmen ausgegangen werden kann, noch könne von den Unterschieden auf eine evolutionäre Entwicklung des Virus geschlossen werden. Lu hat seine Position auf virological.org verteidigt.
Derzeit ist es eine akademische Diskussion ohne Auswirkungen auf die derzeitige Epidemie. Die Unterschiede in der Case-Fatality-Rate zwischen den einzelnen Ländern lassen sich plausibel durch die erhöhte Aufmerksamkeit erklären. In den USA oder in Italien, wo die Case-Fatality-Rate bei 5 % liegt, bleiben nach dieser Vermutung mehr Fälle unentdeckt als in Ländern wie Deutschland, wo bisher kaum Patienten an den Folgen der Infektion gestorben sind.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: