Ärzteschaft

Schilddrüsenfunktion unter endokrinen Disruptoren: Schwangere und Ungeborene brauchen den Schutz durch Jod

  • Donnerstag, 18. Juli 2024
/Dr_Microbe, stock.adobe.com
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Berlin – Kinder, die im Mutterleib einer hohen Belastung durch endokrine Disruptoren ausgesetzt sind, können in ihrer Gehirnentwicklung schwer beeinträchtigt sein. „Sie weisen eine dreifach verzögerte Sprach­entwicklung im Alter von sieben bis zehn Jahren auf“, sagte Josef Köhrle vom Institut für experimentelle En­do­krinologie an der Charité Universitätsmedizin in Berlin. Besonders für Schwangere und Kinder müsse deshalb die schützende Jodversorgung verbessert werden.

Der Spezialist für die Erforschung von Pathologien des thyreoidalen Hormonmetabolismus verdeutlichte damit auf einer Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) den potenziell schädlichen Einfluss von Endokrinen Disruptoren (ED).

Denn diese verändern nicht zuletzt den Hormonstoffwechsel der Schilddrüse (Frontiers in Endocrinology, 2024; DOI: 10.3389/fendo.2024.1429884). Sie können beispielsweise zur Hyper- oder Hypothyreose führen und sind maßgeblich an der fötalen Entwicklung beteiligt.

In einer aktuellen Veröffentlichung (Nature Reviews Endocrinology, 2024; DOI: 10.1038/s41574-024-00958-0) der Europäischen Gesellschaft für Endokrinologie (ESE) zählt die gesundheitsschädliche Wirkung der ED auf die frühe Entwicklung zu den spezifischen „topics of concern“, die den Forschenden größte Sorge bereiten.

Ungeborene, Kinder und Heranwachsende seien am ehesten gefährdet. Zudem müsse die Tumorentwicklung im Auge behalten werden, heißt es in der Nature-Publikation, an der auch Köhrle als Autor beteiligt war. Die Inzidenz von Hodenkrebs sei in allen wirtschaftlich prosperierenden Ländern massiv angestiegen – und die Exposition gegenüber antiandrogenen ED während der Fötalphase könnte ein Teil der Erklärung dafür sein. Vor allem gebe es Evidenz dafür, dass männliche Föten offenbar höheren ED-Dosen ausgesetzt seien als weibliche, heißt es in dem Kommentar.

ED sind gemäß der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) körperfremde Substanzen oder deren Mischung, die die Funktion(en) des endokrinen Systems (ver)ändern und dadurch negative oder schädliche Gesundheitsauswirkungen in einem gesunden Organismus oder dessen Nachkommen oder bei (Teil)Popula­tionen verursachen.

Der Wortlaut der Definition lautet: „an exogenous substance or mixture that alters function(s) of the endo­crine system and consequently causes adverse health effects in an intact organism, or its progeny, or (sub)po­pulations”. Wichtig ist mithin, dass nicht jede Substanz, die hormonelle Wirkungen in unserem Organismus entfaltet, einen ED darstellt – sie muss auch schädigen.

Mehr Plastik als Tiere auf der Welt

Von den rund 350.000 bekannten Chemikalien sind 50 als ED definiert. Fast schon berühmt berüchtigt sind Kunststoffe wie Bisphenol A oder Phthalate, die vor allem als Weichmacher eingesetzt werden. Daneben zählen Tenside wie Nonylphenol dazu, außerdem Flammschutzmittel aus der Gruppe der polybromierten Diphenylether sowie polychlorierte Biphenyle (PCBs) und einige Pestizide und Konservierungsstoffe (Butylparaben) ­­– die allesamt den Hormonmetabolismus beim Menschen beeinflussen können.

Als Quelle schlägt insbesondere Plastik in allen denkbaren Formen zu Buche. Um zu erläutern, was dies quantitativ bedeutet, verwies Köhrle auf dessen schiere Masse, die sich in den letzten sieben Jahrzehnten 200-fach erhöht habe und im Jahr 2020 die Masse aller tierischen Lebewesen überstieg.

Der Schilddrüsenexperte hob außerdem hervor, dass sich die Exposition gegenüber ED vor allem in der Schwangerschaft – und hier im ersten Trimenon – deletär auswirken kann. In dieser frühen Entwicklungs­phase ist der embryonale Organismus in Sachen Schilddrüsenhormone noch ganz auf die Versorgung durch mütterliches T4 angewiesen (International Journal of Hygiene and Environmental Health, 2024; DOI: 10.10.16/j.ijheh.2024.114421).

Hierbei schlage zu Buche, dass so viele Schwangere in Deutschland – wie im Übrigen die Hälfte der Bevölke­rung – nicht ausreichend mit Jod als Schutzfaktor versorgt sei. Jod stellt ist eine essenzielle Voraussetzung dafür dar, dass der Körper Schilddrüsenhormone bilden kann. Die Vulnerabilität gegenüber ED sei in dieser Konstellation daher aufgrund eines Mangels besonders hoch.

Infolgedessen forderte er: „Besonders für Frauen mit Kinderwunsch, Schwangere und Kinder muss die Jodver­sorgung verbessert werden“. Seit langem wird gefordert, eine solche Prophylaxe konsequent im Mutterpass zu verankern. Allerdings sollte die Prävention schon vor der Schwangerschaft beginnen, jede Frau mit Kinder­wunsch sollte daran denken oder darauf aufmerksam gemacht werden. Das ist nicht zuletzt vor dem Hinter­grund einer wieder rückläufigen Jodversorgung in Deutschland wichtig.

Eigeninitiative gefragt

Die „gute Nachricht“, so Köhrle, sei immerhin, dass rund die Hälfte der Belastung durch ED auf individuelles Konsumverhalten zurückzuführen sei. Somit könne jeder selbst seinen Anteil dazu beitragen, für eine Redu­zie­rung der Risiken zu sorgen. Es gebe inzwischen Apps, die beispielsweise für Produkte zur Körperpflege anzeigten, welche Substanzen – und eben auch welche möglichen ED – darin enthalten seien. „Die bieten durchaus seriöse Fachinformationen“, so Köhrles Einschätzung.

Zudem lässt sich für jeden, der will, der Status der Einordnung anhand einer Liste der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) nachvollziehen. Ebenfalls frei zugänglich ist auf der ECHA-Seite diese Liste, die über den aktuellen Status zu den Substanzen informiert, die als endokrine Disruptoren identifiziert wurden oder gerade einer Bewertung auf endokrin schädigende Eigenschaften unterzogen werden.

Nicht zuletzt könnten Verbraucher durch konsequentes Vermeiden von Plastik ihre Exposition weiter verringern. Hier gelte es, auf Glas oder Metall umzurüsten, so der Hormonspezialist. Und schließlich müssten die Belastungen durch strengere Regulierungen und Verbote von Herstellung und Nutzung der gefährlichen Chemikalien gesenkt werden. Dabei sei es nicht sinnvoll, bekannte ED durch verwandte, aber noch wenig untersuchte Verbindungen zu ersetzen. Ein Plan dafür liegt vor.

mls

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