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Schizophrenie: Ausbau niedrigschwelliger Früherkennung gefordert

  • Donnerstag, 10. Oktober 2024
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Berlin – Die Früherkennung und -behandlung von Schizophrenie sollte aus Expertensicht in Deutschland verbessert werden. „Wir sehen viele nachgewiesene Vorteile hinsichtlich der Verzögerung der Krankheits­entwicklung, der Abschwächung von Krankheitsfolgen“, sagte die Professorin für Psychiatrie und Psycho­therapie vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Anne Karow, gestern in Berlin.

Anlass war die Veröffentlichung des „Weißbuch Schizophrenie“ des IGES Instituts. Es erscheint zum heutigen Tag der seelischen Gesundheit. Es geht darin unter anderem um die Versorgungssituation von Menschen mit Schizophrenie und Empfehlungen, wie diese verbessert werden könnte.

IGES zufolge bestehen „gravierende Defizite“ nicht nur bei Früherkennung und -intervention, sondern auch bei der Koordination der Behandlung sowie der Teilhabe Betroffener. Stigmatisierung sei ein enormes Problem.

Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber von Schizophreniebetroffenen hätten eher zugenommen, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Andreas Meyer-Lindenberg.

Die Aufklärung der Öffentlichkeit und Unterstützungsangebote in Schulen, Universitäten und Unternehmen sollten ausgebaut werden, um das Bewusstsein für die Erkrankung und ihre prämorbide Phase zu verbessern, schreiben die Autorinnen und Autoren des Weißbuchs.

An Schizophrenie erkranken demnach hierzulande pro Jahr etwa 19 Menschen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner neu (weltweit: elf bis 20). „Die ersten akuten Krankheitsmanifestationen treten früh auf, im Alter zwischen 18 und 35 Jahren“, sagte Norbert Gerbsch vom IGES Institut.

Die Erkrankung breche jedoch nicht von dem einen auf den anderen Tag in voller Symptom­stärke aus, machte Karow deutlich. Erste Risiko­symptome könnten bereits mit Beginn der Puber­tät auftreten.

Zu den möglichen frühen Warnzeichen gehörten Rückzugsverhalten, Konzentrationsstörungen oder Depressionen. Dadurch sei es zunächst schwierig zu beurteilen, ob dies auf eine mögliche Schizo­phrenie hindeuten könnte.

Das Problem sei jedoch: Je länger derartige Symp­tome unbehandelt blieben, desto geringer sei die Chance auf eine Gesamtremission. Einer der wich­tigsten Langzeitprädikatoren für den Erfolg der Behandlung sei die Dauer der unbehandelten Er­krankung.

Derzeit gibt es Karow zufolge erst rund 20 Zentren in Deutschland, in denen eine Früherkennung von Psycho­sen oder Schizophrenien durchgeführt werde. „Aber es ist nicht in der Regelversorgung implementiert." Häufig seien es forschende Einrichtungen.

Als Vorbild in Sachen Schizophreniefrüherkennung hob Karow Australien hervor. Kernelemente seien zum Beispiel, dass die Zentren in Gemeinden integriert seien und einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichten, beispielsweise durch einbezogene Betroffene und deren Familien.

Im Weißbuch wird geraten, dass auch Möglichkeiten zu anonymer Inanspruchnahme von Hilfe gegeben sein sollten, um Betroffene trotz Selbststigmatisierung zum Aufsuchen solcher Angebote zu ermutigen. Nur etwa ein Viertel der Betroffenen in der Prodomalphase zeige überhaupt erstes hilfesuchendes Verhalten, beispiels­weise bei Lehrern, Polizei oder medizinischen Leistungserbringern, heißt es im Weißbuch.

Hochgerechnet könne in der Gesamtbevölkerung von bis zu 770.000 Betroffenen ausgegangen werden, damit handle es sich nicht um eine seltene Erkrankung, sagte Gerbsch. Angesichts von damit verbundenen Effekten wie beispielsweise einer um zehn bis 20 Jahre verkürzten Lebenserwartung sei dies gravierend.

„Wir sehen in den Analysen des Weißbuchs eine mangelhafte Umsetzung von Maßnahmen der beruflichen Integration. Nur etwa 28 Prozent der Betroffenen stehen im Arbeitsleben“, sagte Gerbsch. Auch Obdachlosig­keit sei bei der Erkrankung ein großes Problem, etwa weil sichere Empfangsräume nach stationären Aufent­hal­ten fehlten.

Ziele müssten sein, eine bedarfsorientierte Strukturentwicklung voranzutreiben und angesichts der komple­xen Versorgungsstrukturen Koordination und Kooperation zu erreichen und Behandlungskontinuität sicher­zustellen, so der IGES-Experte. Sein Vorschlag: das Erarbeiten eines nationalen Schizophrenieplans, um Herausforderungen koordiniert anzugehen.

Obwohl es hierzulande viele gute Angebote gebe, stehe die Versorgung vor erheblichen Herausforderungen, sagte Meyer-Lindenberg. Die dringend notwendige Vernetzung der unterschiedlichen Sektoren und deren Steuerung sei noch verbesserungsfähig.

Mit Blick auf die Krankenhausreform, die die Psychiatrie und Psychotherapie nicht primär betreffe, sagte Meyer-Lindenberg, dass viele Ideen in Hinblick auf schwer psychisch Kranke durchaus sinnvoll seien, beispielsweise die Idee der Vorhaltekosten.

Die Diagnostik bei Schizophrenie fußt dem Weißbuch zufolge auf einem pathophysiologischen Befund, der Verlaufsbeobachtung und organischer Ausschlussdiagnostik. Es handle sich um einen Prozess, eine regel­mäßige Neubewertung der Diagnose werde empfohlen.

Zu den Mythen rund um die Erkrankung zählt laut Karow beispielsweise, dass Betroffene eine Persönlich­keits­spaltung aufwiesen, dass die Erkrankung nicht behandelbar sei und gewalttätig mache.

Neben Rechercheergebnissen sind auch Erkenntnisse aus einem Expertendialog und ein Gastbeitrag einer Betroffenen in die Publikation eingeflossen. Finanziell unterstützt wurde die Erstellung des Weißbuches durch das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim.

ggr

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