Streit um Forderung, Selbstmedikation auszuweiten

Berlin – Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) hat gefordert, die Patienten zu ermutigen, mehr OTC-Arzneimittel in der Apotheke zu kaufen. Denn Selbstmedikation habe diverse positive Effekte für das Gesundheitssystem und die in ihm arbeitenden Akteure. Darüber ist ein Streit entbrannt.
„Selbstmedikation birgt Entlastungseffekte für die gesetzliche Krankenversicherung in Höhe von 21 Milliarden Euro“, sagte Stefan Meyer, Vorstandsmitglied des BAH, auf einer Veranstaltung des Verbandes vor kurzem in Berlin. Sie entlaste Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch weniger Arztbesuche und vermeide so Produktivitätsminderungen in Milliardenhöhe durch Abwesenheit vom Arbeitsplatz. Zudem würden durch mehr Selbstmedikation Freiräume für die Behandlung von schwerwiegenden Erkrankungen in den Arztpraxen geschaffen.
Um mehr Selbstmedikation durch die Bürger zu ermöglichen, benötigten diese jedoch eine größere Gesundheitskompetenz. „Der Einzelne braucht die Kompetenz, selbst einschätzen zu können, ob er eine Selbstmedikation benötigt“, sagte Meyer. Er forderte, dass es den Arzneimittelherstellern erlaubt sein solle, die Patienten über die OTC-Präparate zu informieren, um deren Gesundheitskompetenz auf diese Weise zu steigern. Heute ist es den Pharmafirmen verboten, die Patienten direkt über ihre Produkte zu informieren.
Die Patienten vor Unnötigem schützen
Klaus Weckbecker, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin an der Universität Bonn, sieht den Vorstoß des BAH skeptisch. „Ich erlebe eher das Problem, dass 20 Prozent der Krankenhauseinweisungen auf Wechselwirkungen von Arzneimittel beruhen. Möchten Sie, dass ältere, multimorbide Patienten vor diesem Hintergrund unberaten eine Selbstmedikation vornehmen dürfen?“, fragte er auf der Veranstaltung. Das sei doch sehr problematisch.
„Wichtig ist es, die Patienten vor Unnötigem zu schützen“, meinte auch Gerd Glaeske von der Universität Bremen. Und das sei nicht so leicht. Denn heute gebe es viele eingeführte Arzneimittel, zu denen es schwierig sei, eine Studie zu finden, mit der man einen Mehrwert des Medikaments für die Patienten belegen könne. „Das ist eine Situation, wo die Pharmafirmen auch eine Bringschuld haben“, sagte Glaeske.
Hoher Bildungsgrad, hohe Nachfrage nach Selbstmedikation
„Wir wissen vom Robert-Koch-Institut, dass die Nachfrage nach Selbstmedikation mit dem Bildungsgrad der Patienten steigt“, fuhr der Bremer Pharmakologe fort. „Je höher der Bildungsgrad ist, desto mehr wird selbst entschieden. Selbstmedikation anzuwenden, bedeutet zudem auch, das Geld zu haben, für diese Medikamente zahlen zu können.“
In diesen Zusammenhang passe eine Studie der DAK, die ergeben habe, dass 20 Prozent der Menschen, die im Arbeitsprozess stehen, leistungssteigernde Mittel nähmen. Mehr Selbstmedikation würde auch einen Anreiz setzen, die eigene Leistungsfähigkeit über Selbstmedikation zu steigern.
„Auch einmal einen Wadenwickel anlegen“
Weckbecker betonte, dass es für Patienten nicht leicht sei, die vorhandenen Gesundheitsinformationen richtig einzuordnen. „Patienten brauchen eine persönliche Beratung“, betonte er. „Die Personalisierung halte ich dabei für entscheidend. Wenn Sie bei Google eine Hautveränderung eingeben, landen Sie immer bei einer Tumorerkrankung. Dann fällt es schwer zu glauben, dass diese Patienten ohne persönliche und wissenschaftsbasierte Beratung zurechtkommen.“
Gesundheitskompetenz bedeute darüber hinaus zu erkennen, wie schwer die eigene Erkrankung sei und wann man Hilfe vom Arzt oder Apotheker benötige beziehungsweise wann man auf die Selbstheilungskräfte des Körpers vertrauen könne. Glaeske betonte, dass Selbstmedikation nicht zwingend mit Arzneimitteln zu tun haben müsse: „Selbstmedikation heißt auch, zu Hause einmal einen Wadenwickel anzulegen.“
Forderung nach Primärarztsystem
BAH-Vorstandsmitglied Meyer betonte, dass längst nicht alle Arztkontakte notwendig seien, die es in Deutschland gebe. Weckbecker meinte, dass dies jedoch nicht ausschließlich mit der Selbstmedikation in Zusammenhang stehe. „Es gibt Länder, wo Patienten in den ersten drei Tagen keine Krankschreibung brauchen“, sagte er. Und dass es in Deutschland so viele Arztkontakte gebe, liege auch daran, dass es kein Primärarztsystem gebe. „Ausländische Ärzte glauben gar nicht, wenn man ihnen sagt, dass Patienten in Deutschland direkt zum Kardiologen gehen dürfen“, sagte Weckbecker.
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