Medizin

Therapeutische Antikoagulation ohne Überlebensvorteil bei Intensivpatienten mit COVID-19

  • Mittwoch, 31. August 2022
/picture alliance, Friso Gentsch
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Boston – Eine therapeutische Antikoagulation hat in einer randomisierten US-Studie bei Intensivpatienten mit COVID-19 die Zahl der thrombotischen Ereignisse gegenüber einer prophylaktischen Antikoagulation zwar gesenkt.

Nach Ergebnissen, die auf der Jahrestagung der European Society of Cardiology in Barcelona vorgestellt und in Circulation (2022; DOI: 10.1161/CIRCULATIONAHA.122.061533) publiziert wurden, kam es jedoch auch zu einem Anstieg von mittelschweren bis schweren Blutungen. Die Sterberate der Patienten wurde nicht ge­senkt. Eine Thrombozytenhemmung durch Clopidogrel erzielte keinen Zusatznutzen.

Die Frage einer intensivierten Antikoagulation stellt sich, seit zu Beginn der Pandemie erkannt wurde, das viele Patienten an thrombotischen Komplikationen der Erkrankung sterben. Häufig sind die kleinen Gefäße im Lungenkreislauf betroffen, was die Sauerstoffaufnahme stört und damit das akute Lungenversagen verschärft. Eine prophylaktische Antikoagulation, die die meisten bettlägerigen Patienten heute erhalten, konnte dies nicht verhindern.

Seither ist in mehreren Studien untersucht worden, ob eine höher dosierte therapeutische Antikoagulation, die normalerweise erst bei einer eingetretenen Thrombose eingesetzt wird, Patienten mit COVID-19 vor thrombotischen Ereignissen schützen kann.

Die bisher größte Untersuchung aus 3 Kohorten (REMAP-CAP, ACTIV-4a und ATTACC) war im letzten Jahr vor­zeitig gestoppt worden, weil auch nach der Behandlung von 1.098 Patienten kein Vorteil durch die therapeu­tische Antikoagulation in der Gesamtmortalität erkennbar wurde (New England Journal auf Medicine 2021, DOI: 10.1056/NEJMoa2103417).

Mit 37,3 % versus 35,5 % war die Zahl der Todesfälle unter der therapeutischen Antikoagulation sogar ten­denziell höher, obwohl die Rate der thrombotischen Ereignisse mit 7,2 % gegenüber 11,1 % niedriger war.

In der HEP-COVID-Studie mit 253 Patienten (JAMA Internal Medicine 2021, DOI: 10.1001/jamainternmed.2021.6203), bei denen ein mehr als 4-fach erhöhter D-Dimer-Wert auf ein beginnen­des thrombotisches Ereignis hindeutete, senkte eine therapeutische Antikoagulation den primären Endpunkt aus thrombotischen Ereignissen oder Gesamtmortalität dagegen signifikant um 32 % (relatives Risiko [RR] 0,68; 95-%-Konfidenzintervall [KI] 0,49-0,96). Der Vorteil schien dort auf Patienten in einem nicht-kritischen Zustand beschränkt zu sein.

In der brasilianischen ACTION-Studie (Lancet 2021, DOI: 10.1016/S0140-6736(21)01203-4 mit 615 hospitalisierten, aber zumeist noch stabilen Patienten wurde die Häufigkeit der thrombotischen Ereignisse nur tendenziell gesenkt (RR 0,75; 95-%-KI 0,45-1,26).

In der COVID-PACT-Studie, deren Ergebnisse jetzt ein Team um David Berg vom Brigham and Women's Hospi­tal in Boston vorstellte, waren an 34 US-Zentren 390 Intensivpatienten (fast alle benötigten bereits eine Sau­erstoffunterstützung) auf eine therapeutische oder prophylaktische Antikoagulation randomisiert worden.

In beiden Gruppen erhielt die Hälfte der Teilnehmer zusätzlich den Thrombozytenaggregationshemmer Clopi­dogrel. Der primäre Wirksamkeitsendpunkt war eine Kombination aus Tod infolge von venöser oder arterieller Thrombose, Lungenembolie, klinisch nachweisbarer tiefer Venenthrombose (TVT), Typ-1-Myokardinfarkt, ischämischem Schlaganfall, systemischem Embolieereignis oder akuter Extremitätenischämie oder klinisch stummer TVT bis zur Krankenhausentlassung oder in den ersten 28 Tagen.

Die Bewertung erfolgte in einer hierarchischen Reihenfolge, in der beispielsweise ein Tod höher bewertet wurde als eine Hospitalisierung. Bei einer normalen Analyse würde ein Patient, dessen Hospitalisierung vor dem Tod erfolgt, nur als Hospitalisierung gewertet, was zu einer Schieflage führt, wenn in einer Gruppe mehr Patienten nach einer Hospitalisierung sterben.

Das Ergebnis der hierarchischen Analyse ist eine Gegenüberstellung der Gewinner („win“). Laut Berg waren hier die Patienten, die die volle Dosis erhalten hatten, mit 12,3 % gegenüber 6,4 % fast doppelt so häufig in der Gruppe der Gewinner: Die „Win Ratio“ von 1,95 war mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,08 bis 3,55 signifikant.

Auch in einer „Time to Event“-Analyse waren die Ergebnisse mit 19 Ereignissen (9,9 %) in der vollen Dosis versus 29 Ereignissen (15,2 %) in der Standarddosis eindeutig besser (Hazard Ratio 0,56; 95-%-KI 0,32-0,99).

Bei einer näheren Betrachtung waren die Vorteile vor allem auf venöse thrombotische Ereignisse (18 versus 28) zurückzuführen (Hazard Ratio 0,55; 95-%-KI 0,31-0,99). Dazu zählten in erster Linie tiefe Venenthrom­bo­sen (9 versus 16 Ereignisse mit klinischen Symptomen und 5 versus 6 stumme Ereignisse). Arterielle throm­bo­tische Ereignisse, die oft gravierende Folgen haben, waren selten (1 versus 2 Fälle).

Wie zu erwarten, kam es unter der therapeutischen Antikoagulation häufiger zu mittelschweren Blutungen (11 versus 0) und auch zu schweren Blutungen (4 versus 1). Obwohl keiner dieser Patienten starb, hat sich die hochdosierte Antikoagulation nicht positiv auf die Gesamtsterblichkeit ausgewirkt.

Unter der hochdosierten Antikoagulation starben sogar mehr Patienten (36 versus 32 Fälle). Die Hazard Ratio von 0,91 (95-%-KI 0,57-1,48) liefert keinen Hinweis, dass die Behandlung die Prognose quoad vitam verbes­sert oder vielleicht doch verschlechtert hat.

Die zusätzliche Gabe von Clopidogrel hat sich übrigens in keinem Punkt positiv auf die Ergebnisse ausge­wirkt. Vor dem Hintergrund einer Antikoagulation scheint eine zusätzliche Thrombozytenhemmung nicht notwendig zu sein.

rme

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