„Training ist im Fußball heute etwas sehr Individuelles“
Berlin – Er betreut den Deutschen Fußballmeister und DFB-Pokalsieger der Saison 2023/24: Der Internist Karl-Heinrich Dittmar ist seit 2009 Direktor Medizin bei Bayer 04 Leverkusen und Mitglied der Geschäftsführung des Vereins.
Das Deutsche Ärzteblatt hat kurz vor dem Start der Fußball-Europameisterschaft der Herren in Deutschland mit ihm darüber gesprochen, wie die Profis heutzutage trainieren, wie die optimale Ernährung vor, während und nach dem Spiel aussieht und was es mit seiner „Werkstatt“ im Stadion auf sich hat.
Auch wenn Dittmar der deutschen Mannschaft eine Überraschung und das Finale zutraut – er glaubt eher an einen Sieg von Frankreich oder Spanien.

5 Fragen an Karl-Heinrich Dittmar, Direktor Medizin bei Bayer 04 Leverkusen
Was interessiert Sie bei der EM besonders? Worauf werden Sie mit anderen Augen blicken als der normale Fernsehzuschauer?
Auf die EM blicke ich einerseits durchaus als Fan, den das rein Fußballerische interessiert – ohne Enthusiasmus für den Sport könnte ich meinen Job nicht machen. Anderseits beschäftigen mich natürlich die medizinischen Aspekte. Es geht um das Wohl unserer eigenen Spieler. Dahinter stehen die Fragen, wie fit sie vom Turnier zurückkommen und was das für unsere nächste Saison bedeutet.
Bayer 04 Leverkusen hat nicht nur Spieler in der deutschen Nationalelf, sondern in mehreren weiteren Nationalmannschaften. Parallel zur EM läuft noch die Südamerikameisterschaft Copa América. Wir stehen mit all den Nationalteams in Kontakt, in denen unsere Spieler aktiv sind. Deren Teamärzten stellen wir vorab Fitnessdaten zur Verfügung.
Während einer Partie achte ich genau darauf, ob ein Spieler mal länger am Boden liegenbleibt. Die Frage ist sofort, ob und was für eine Verletzung es sein könnte. Besonders kritisch schaue ich hin, wenn es einer unserer Spieler ist. In solchen Fällen würde ich im Anschluss Kontakt zum Mannschaftsarzt aufnehmen, um zu hören, was los war und ob alles in Ordnung ist.
Manchmal ist schon auf den Fernsehbildern zu sehen, ob typische Verletzungsmuster vorliegen, zum Beispiel bei einem Kreuzbandriss. In solchen Fällen fühle ich mit, unabhängig davon, ob es ein Leverkusener Spieler ist oder ein anderer.
Bei Spielern sieht man manchmal, dass sie noch hastig eine bunte Flüssigkeit oder Gels zu sich nehmen, bevor sie auf den Platz gehen. Was hat es damit auf sich? Steckt da teils ein ärztliches Konzept dahinter und inwieweit nehmen Sie auf die Ernährung Einfluss?
Das, was die Spieler nehmen, sind Gels mit schnell verwertbaren Kohlenhydraten und Mineralien. Die Drinks sind isotonische Elektrolytlösungen, die Farbe hat keine Relevanz. Das ist gut für den Kopf, für die Psyche – aber nichts, was man unbedingt bräuchte. Außer vielleicht, wenn man nach 85 Spielminuten ausgepowert ist. Aber nicht, wenn man gerade eingewechselt wird.
Auf die richtige Ernährung vor dem Spiel achten wir sehr: Es wird gemeinsam gegessen. Und zwar keine Pizza, keine Schokolade, sondern leichte, hochwertige Mahlzeiten, wie die klassischen Nudeln oder Milchreis. Unsere Köche begleiten uns bei Auswärtsspielen und sorgen für einen Qualitätsstandard.
Superfood braucht es nicht. Zur Regeneration gäbe es auch alle möglichen Pulver für Shakes – aber das darf man nicht überbewerten. Die ideale Ernährung nach einem Spiel, um die Kohlenhydratspeicher wieder aufzufüllen, wären Kakao und eine Banane.
Es gibt auch Kritik am heutigen Profizirkus, mit einer hohen Dichte an Spielen und kurzen Regenerationsphasen. Wie sehen Sie das – und kann man sich als Mannschaftsarzt gegenüber nicht-medizinischen Interessen behaupten?
Hochleistungssport hat nichts mit Gesundheitsbreitensport zu tun. Die Spieler haben hohe Belastungen und können schon in relativ jungen Jahren gesundheitliche Probleme davontragen, keine Frage. Die Belastungen und die Geschwindigkeiten sind stark gestiegen.
Die deutsche Nationalmannschaft, die 1974 Weltmeister geworden ist, würde mit ihren Fähigkeiten wahrscheinlich heute nicht mehr in der Spitze mithalten können – aber alle damaligen Konkurrenzteams auch nicht.
Nichtsdestotrotz: Wir versuchen, alles für die Gesundheit unserer Spieler zu tun. Wir müssen mit jedem Spieler und jedem Trainer ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Und grundsätzlich haben wir die gleichen Interessen: Wir wollen die Spieler so fit wie möglich so oft wie möglich zur Verfügung stellen.
Bei Bayer Leverkusen ist es so, dass wir größten Wert darauf legen müssen, dass wir unsere Top-Spieler an Bord haben, da wir im Vergleich zu manch anderem Verein (z.B. in der Premier League) einen kleineren Kader haben. Das heißt, wir sind extrem auf eine hohe Präsenz unserer Spitzenspieler angewiesen, weil wir sie nicht ohne Weiteres von der Bank ersetzen können.
Meine Erfahrung aus den vergangenen mehr als 20 Jahren im Verein ist, dass es in aller Regel einen Konsens der Beteiligten gibt. Manchmal müssen wir Spieler, die trotz einer Verletzung unbedingt auf den Platz wollen, vor sich selbst schützen – aber es gibt auch Fälle, da muss man sie pushen. Zum Beispiel, wenn trotz leichter Beschwerden kein Verletzungsrisiko besteht, etwa wenn ein Nerv nur irritiert ist.
Normalerweise zeigt Schmerz aber sehr gut an, welche Bewegungen man vermeiden sollte. Wir versuchen, auf Schmerzmittel zu verzichten.
Als die Bayarena vor rund 15 Jahren modernisiert wurde, wies der Verein auf einen von Ihnen mitkonzipierten Bereich hin, unter anderem mit High-Tech-Geräten, Kältekammer und Anti-Schwerkraft-Laufband. Welche Vorteile bringt so eine Ausstattung, haben das heutzutage alle Profi-Vereine?
Wir nennen diesen Bereich „Werkstatt“: Das ist ein Zentrum für Diagnostik, Medizin, Prävention und Training. Wir versuchen, dort schon zu Beginn der Saison bei der Eingangsdiagnostik, Defizite der einzelnen Spieler aufzuklären. Wenn jemand etwa ein Problem in der Hüftabduktion hat, dann arbeiten wir daran im Laufe der Saison.
Training läuft heutzutage nicht mehr so ab wie früher, dass alle Spieler um 11.00 Uhr zusammen auf den Platz gehen, sich drei Runden aufwärmen und danach das gleiche Programm absolvieren. Training ist im Fußball heute etwas sehr Individuelles.
Gewisse Übungen macht die Mannschaft immer noch gemeinsam, gewisse Sachen machen Teile der Mannschaft. Gewisse Dinge gestalten die Athletiktrainer zusammen mit der Medizin für jeden Einzelnen.
Wir haben in der „Werkstatt“ verschiedene Gerätschaften. Das ist bis heute ein kontinuierlicher Prozess: Wir stellen manchmal fest, dass das ein oder andere, was wir ausprobiert haben, doch nicht so sinnvoll ist. Dann gibt es Anpassungen. Am Anfang hatten wir zum Beispiel die Rolle der Biomechanik bei Verletzungen weniger auf dem Schirm: die funktionelle Diagnostik. Früher hatte man, neben der Klinik, in erster Linie die Bildgebung (Sonografie/MRT...) im Blick.
Viele andere Vereine haben eine solche Ausstattung auch, aber nicht immer im eigenen Haus. Man kann mit externen Einrichtungen kooperieren, etwa sportwissenschaftlichen Instituten oder anderen Dienstleistern.
Die Lösung direkt bei uns im Stadion senkt aber die Schwelle, Angebote auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Wir sind auf einem Top-Niveau, aber ausbauen könnte man das immer noch. Die Relation von Kosten und Nutzen sieht gut aus: Wenn wir es schaffen, einen verletzten Top-Spieler zwei Wochen früher wieder auf den Platz zu kriegen, ist das sehr viel Geld wert.
Wie ist es für Sie als Internist, sich viel mit Sportverletzungen zu beschäftigten?
Die meisten Mannschaftsärzte sind tatsächlich eher aus der Orthopädie oder (Unfall-)Chirurgie. Ich bezeichne mich nach 23 Jahren in der medizinischen Betreuung des Vereins gern als Hobby-Orthopäde: Ich glaube, die meisten Fußballverletzungen kenne ich, und ich kann damit umgehen, aber ich verlasse mich an der Stelle trotzdem auf den Facharzt im Team.
In meinem Job geht es ohnehin weniger darum, selbst das Knie- oder Sprunggelenkstrauma zu behandeln, sondern um das große Ganze: Logistik, Prävention, Steuerung und Belastungsmanagement.
Es ist wichtig, das alles zu verzahnen. Die medizinische Abteilung leistet dann ihren Beitrag zum Erfolg des Teams, gerade wenn es um Verletzungsprävention und Fitness geht. Im Monat Mai hatten wir 100 % Kaderverfügbarkeit: keine Verletzten, keinen Ausfall. Das ist ungewöhnlich.
Viele Aufgaben im Klub muss ich delegieren. Der Posten ist neben meiner Arbeit als niedergelassener Internist sehr zeitintensiv und geht zu Lasten von Freizeit und Familie.
Ich habe in den vergangenen Jahren glaube ich zwei Spiele von Bayer Leverkusen verpasst. Und bevor ich 2002 internistischer Mannschaftsarzt wurde, saß ich selbst als Fan auf der Tribüne.
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