Medizin

US-Leitlinie will ASS zur Primärprävention von Herzinfarkt und Darmkrebs empfehlen

  • Dienstag, 15. September 2015
Aspirin im Glas/dpa
dpa

Seattle – Die United States Preventive Services Task Force (USPSTF), ein vom US-Gesundheitsministerium eingesetztes Gremium, betrachtet die Einahme von Acetylsali­cylsäure (ASS) zur Primärprävention von Herzinfarkt und Darmkrebs als evidenzbasiert. Ein Leitlinien-Entwurf rät allen Erwachsenen im Alter zwischen 50 und 70 Jahren zur täglichen Einnahme des populären Wirkstoffs, sofern ihr kardiovaskuläres Risiko leicht erhöht ist und kein erhöhtes Blutungsrisiko vorliegt.

Dass ASS einem Herzinfarkt und anderen Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen kann, ist lange bekannt. Die Vorteile müssen jedoch mit den vor allem gastro-intesti­nalen Blutungsrisiken in Beziehung gesetzt werden. In Europa wird die ASS-Gabe in der Regel auf Patienten beschränkt, die bereits einen Herzinfarkt erlitten haben. Von einer Primärprävention raten die Leitlinien jedoch ab.

In den USA sind die Empfehlungen großzügiger. Eine Leitlinie der American Heart Association hielt eine Primärprävention des Herzinfarktes mit 75 bis 160 mg ASS pro Tag bereits 2002 für „erwägenswert“, wenn das 10-Jahres-Risiko auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung mindestens 10 Prozent beträgt. Im letzten Jahr gab es auch positive Empfehlungen zur Primärprävention des Schlaganfalls.

Dieser Haltung schließt sich jetzt auch eine Gruppe um Evelyn Whitlock von der Universität von Washington in Seattle an, die im Auftrag des USPSTF die Evidenz für die Primärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit ASS untersucht hat. Die Empfehlung richtet sich an Erwachsene im Alter von 50 bis 70 Jahren.

Diesen wird zur täglichen Einnahme von ASS geraten, wenn das 10-Jahres-Risiko auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung mindestens 10 Prozent beträgt und wenn sie bereit sind, die Tabletten über viele Jahre hinweg einzunehmen. Der älteren Gruppe der 60 bis 69jährigen wird dabei zur Vorsicht geraten, da das Blutungsrisiko mit dem Alter ansteige.

Die Zahlen zur Evidenz sind nicht neu. Whitlock basiert ihre Berechnungen auf elf randomisierte klinische Studien, die zwischen 1988 und 2014 publiziert wurden. Aus ihnen geht hervor, dass die regelmäßige Einnahme von ASS das Risiko auf einen tödlichen Myokardinfarkt um 22 Prozent (relatives Risiko 0,78; 95-Prozent-Konfidenzintervall 0,71-0,87) und die Gesamtmortalität um 6 Prozent (relatives Risiko 0,94; 0,89-0,99) senkt. Eine Prävention von nicht tödlichen Schlaganfällen oder eine Senkung der Herz-Kreislauf-Sterblichkeit war laut Whitlock jedoch nicht nachweisbar.

Die Analyse zeigt an, dass die protektive Wirkung mit dem Alter zunimmt. Näheres hierzu erhofft sich die Forscherin von der laufenden ASPREE-Studie. Ob Diabetiker einen größeren Nutzen von der Prävention haben, wird derzeit in zwei großen randomisierten Studien untersucht: An der ACCEPT D-Studie der Fondazione Mario Negri Sud in Mozzagrogna nehmen 5.170 Diabetiker teil. Die Studie untersucht auch die präventive Wirkung von Simvastatin. Die ASCEND-Studie der British Heart Foundation umfasst 15.480 Diabetiker. Hier wird auch die präventive Wirkung von Omega-3-Fettsäuren untersucht.

Die Evidenz zur Prävention von Krebserkrankungen basiert auf zehn randomisierten Studien, die zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen durchgeführt wurden. Die krebspräventive Wirkung wurde erst in sekundären Analysen entdeckt. Die Daten sind ebenfalls nicht neu. Peter Rothwell von der Universität Oxford hat hierzu in den letzten Jahren mehrere Meta-Analysen vorgelegt. Whitlock kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Eine allgemeine krebspräventive Wirkung ist nicht nachweisbar.

Das relative Risiko von 0,96 war bei einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 0,87-1,06 nicht signifikant. ASS scheint aber die Rate von Darmkrebserkrankungen deutlich zu senken. Whitlock ermittelt ein relatives Risiko von 0,67, das mit einem relativ weiten 95-Prozent-Konfidenzintervall von 0,52 bis 0,86) gleichwohl signifikant war. Anders als bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen scheint die präventive Wirkung jedoch erst nach längerer Einnahmezeit aufzutreten. Menschen, die ASS über 1 bis 19 Jahre einnahmen, erkrankten zu 40 Prozent seltener an Darmkrebs (relatives Risiko 0,60; 0,47-0,76).

Die Vorteile müssen allerdings mit den Risiken der langfristigen ASS-Einnahme in Beziehung gesetzt werden. Diese bestehen in erster Linie in gastrointestinalen Blutungen. Laut Whitlock kommt es bereits bei einem sehr niedrig dosierten ASS (weniger als 100 mg täglich oder jeden zweiten Tag) zu einem Anstieg um 58 Prozent. Hinzu kommt ein um 27 Prozent leicht erhöhtes Risiko von hämorrhagischen Schlaganfällen. Diese relativen Risiken müssen vor einem relativ niedrigen Ausgangsrisiko von gesunden Menschen gesehen werden. Whitlock schätzt, dass auf 1.000 Anwenderjahre durchschnittlich zwei zusätzliche Blutungsereignisse kommen. Dies gilt allerdings nur für jüngere Menschen, Frauen und Personen, die keine anderen Blutungsrisikofaktoren haben.

Der Leitlinien-Entwurf der USPSTF weist natürlich auf diese Risiken hin, und eine pauschale Empfehlung an alle älteren Erwachsenen ist nicht vorgesehen. Ob die Öffentlichkeit allerdings in der Lage ist, die Nuancen einer Empfehlung richtig einschätzen zu können, wird von vielen Beobachtern bezweifelt. Bereits heute sollen 40 Prozent aller Erwachsenen über 50 Jahre regelmäßig ASS einnehmen, viele in Eigenmedikation und ohne Rücksprache mit ihrem Arzt. Darunter sind Millionen, die ASS nicht einnehmen sollten, beklagte Steven Nissen von der Cleveland Clinic jetzt gegenüber den New York Times. Andere Experten äußerten die Befürchtung, dass die Empfehlung, ASS zur Vorbeugung von Darmkrebs einzunehmen, viele Amerikaner in falscher Sicherheit wiege und dazu verleiten könnte, auf die empfohlenen Vorsorgekoloskopien zu verzichten.

Die US-Arzneibehörde hat im letzten Jahr die Einnahme von ASS zur Primärprävention von Herzinfarkt und Schlaganfall abgelehnt. Zuvor war Bayer Healthcare mit dem Antrag gescheitert, die Primärprävention eines Herzinfarkts (bei einem 10-Jahresausgangs­risiko von 10 Prozent) als Indikation in die Fachinformation aufzunehmen.

rme

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