Medizin

Vagusnervstimulator hebt Bewusstseinszustand nach 15 Jahren Wachkoma

  • Dienstag, 26. September 2017
[18F] -Fluorodeoxyglucose-FDG-PET-Bilder, die während der Baseline (links, vor-VNS) und 3 Monate nach Vagusnervstimulation (rechts, nach-VNS) erworben wurden. Nach Vagusnervstimulation erhöhte sich der Stoffwechsel im rechten Parieto-Okzipital-Kortex, Thalamus und Striatum. /Corazzol et. al.
[18F] -Fluorodeoxyglucose-FDG-PET-Bilder, die während der Baseline (links, vor-VNS) und 3 Monate nach Vagusnervstimulation (rechts, nach-VNS) erworben wurden. Nach Vagusnervstimulation erhöhte sich der Stoffwechsel im rechten Parieto-Okzipital-Kortex, Thalamus und Striatum. /Corazzol et. al.

Lyon – Ein Vagusnervstimulator, wie er zur Behandlung von Epilepsie und Depressionen implantiert wird, hat einem Wachkoma-Patienten aus Frankreich eine minimale Kontaktaufnahme mit seiner Umwelt ermöglicht, berichten Hirnforscher in Current Biology (2017; doi: 10.1016/j.cub.2017.07.060).

Patienten im Syndrom reaktionsloser Wachheit („Wachkoma“) öffnen hin und wieder ihre Augen, sie sind aber nicht in der Lage, Kontakt zu ihrer Umwelt aufzunehmen. Hirnforscher vermuten, dass bei den Patienten wichtige Verbindungen zwischen subkortikalen Zentren und dem Thalamus verloren gegangen sind.

Die „vegetativen“ Funktionen des Körpers bleiben erhalten, eine Kontrolle durch das Bewusstsein ist nicht mehr erkennbar. Einige Patienten erholen sich spontan vom Wachkoma, die Chancen sinken jedoch mit der Zeit. Kliniker sehen die Grenze bei etwa 12 Monaten. Ein Team um Angela Sirigu vom Centre National de la Recherche Scientifique in Bron bei Lyon hat jetzt untersucht, ob sich die thalamo-kortikalen Verbindungen durch die Stimulation des Nervus vagus wieder aktivieren lassen.

Der zehnte Hirnnerv ist als wichtigster Bestandteil des parasympathischen Nervensystems gut mit dem Thalamus und anderen Hirnzentren (dorsale Raphe-Kerne, Amygdala und Hippocampus) vernetzt. Bei einer Stimulation des Nervus vagus, die über zwei Implantate im Halsbereich möglich ist, kommt es nicht nur in diesen „vegetativen“ Hirnregionen zu einer vermehrten Aktivität. Untersuchungen haben gezeigt, dass auch die thalamo-kortikalen Verbindungen vermehrt aktiv sind.

Diese Beobachtungen haben die französischen Hirnforscher veranlasst, einem 35-jährigen Mann, der nach einem Schädel-Hirn-Trauma seit 15 Jahren im Wachkoma liegt, einen Vagusnervstimulator zu implantieren. Die Intensität der Vagusstimulation wurde nach der Operation langsam erhöht. Nach einem Monat und einer Intensität von 1 mA begann der Patient erstmals auf äußere Reize zu reagieren.

Sirigu zufolge konnte er beispielsweise einem Gegenstand mit den Augen und dann mit einer Bewegung des Kopfes folgen. Die Mutter hatte den Eindruck, dass ihr Sohn wacher sei und ihr zuhöre, wenn sie ihm ein Buch vorlese. Auch einfache klinische Tests verliefen positiv. Wenn der Untersucher sich mit dem Kopf plötzlich näherte, riss der Patient die Augen auf, als würde er sich erschrecken, berichtet Sirigu.

Die Ärzte änderten ihre Diagnose: Ein Anstieg im CRS-R-Score („Coma Recovery Scale-Revised“) von 5 auf 10 Punkte bedeutet für sie, dass der Patient jetzt einen minimalen Bewusstseinszustand („minimally conscious state“) erreicht hat. Auch in den Aufzeich­nungen der Hirnaktivität zeigten sich Veränderungen.

Im EEG kam es zu einer signifikanten Verstärkung des Theta-Signals, was laut Sirigu für den Übergang vom vegetativen in den minimal-bewussten Zustand kennzeichnend ist. In der „weighted symbolic mutual information“ (wSMI) ließ sich die Verbesserung der Hirnverbindungen („Connectivität“) im EEG auch bildlich darstellen. Drei Monate nach der Implantation wurde in einer Positronen-Emissions-Tomographie (18F-FDG PET) eine vermehrte Glukoseaufnahme der Hirnzellen im Thalamus, aber auch in einigen subkortikalen Regionen gefunden.

Sirigu ist deshalb sicher, dass die Vagusstimulation für die Veränderungen verantwort­lich ist. Sein Kollege Andrew Cole, ein Neurologe an der Harvard Medical School in Boston, äußerte sich gegenüber Science skeptisch. Die Veränderungen in den kli­nischen Tests und in der apparativen Diagnostik seien so minimal, dass unspezifische Wirkungen, etwa durch die Operation zur Implantation des Vagusstimulators oder auch das Ein- und Ausschalten der Hirnscanner, nicht auszuschließen seien.

Die französischen Forscher planen jetzt eine klinische Studie, um den möglichen Nutzen der Vagusstimulation an einer größeren Gruppe von Patienten zu untersuchen.

rme

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