Verhaltensforschung: Gestresste Männer entscheiden selbstloser

Regensburg – Das oft negativ konnotierte Phänomen Stress kann auch prosoziale Konsequenzen haben. Im Versuchslabor entschieden sich Männer ohne Stress egoistischer, wenn sie vor ein moralisches Dilemma gestellt wurden als gestresste Teilnehmer. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher der Universität Regensburg in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe „Kognitive Neurowissenschaften“ am Bezirksklinikum Regensburg in einer Studie, die in Hormones and Behavior publiziert wurde (2017; doi: 10.1016/j.yhbeh.2017.05.002).
Viele moralische Entscheidungen im Alltag müssen schnell und unter Stress getroffen werden. Man denke beispielsweise an folgende Situation: Nach einem anstrengenden Arbeitstag möchte man unbedingt den Bus erwischen, um rechtzeitig zu einem wichtigen Termin zu Hause zu sein. Kurz bevor der Bus abfährt, lässt ein älterer Herr versehentlich seine Tüte mit Einkäufen fallen und alles purzelt auf den Gehsteig. Was macht man? Hilft man dem Mann beim Einsammeln oder steigt man in den Bus?
Um den Einfluss von Stress auf moralisches Entscheidungsverhalten zu untersuchen, haben die Forscher um Brigitte Kudielka von der Universität Regensburg 50 gesunde junge Männer entweder mit dem „Trier Social Stress Test“ (TSST, n = 30) oder einer nicht stressenden Kontrollbedingung konfrontiert (n = 20). Der TSST stellt ein inzwischen weltweit verwendetes Standardprotokoll zum absichtlichen Erzeugen von moderatem psychosozialen Stress im Verhaltenslabor dar. Anschließend beantworteten die Probanden 28 alltagsbezogene moralische Dilemmata mit selbstloser oder egoistischer Antwortalternative innerhalb von wenigen Sekunden (siehe Kasten). Die Teilnehmenden sollten zudem ihre Sicherheit und ihr Gefühl bei den Moralentscheidungen angeben. Außerdem füllten sie verschiedene Selbstberichtsfragebögen aus und gaben zu mehreren festgelegten Zeitpunkten Speichelproben zur Messung des Stresshormons Cortisol ab.
Unter Stress entschieden sich die Männer bei moralischen Dilemmata im Mittel weniger egoistisch als jene, die keinem Stress ausgesetzt waren. Etwa 65 Prozent der gestressten Männer entschieden sich für die altruistische Option, während ohne Stress nur durchschnittlich 54 Prozent die selbstlose Variante wählten.
Egosimus gepaart mit Unsicherheit und negativen Emotionen
Zudem waren selbstlose Entscheidungen durch eine höhere Entscheidungssicherheit und durch positivere Emotionen charakterisiert als egoistische Entscheidungen. Die Forscherinnen fanden darüber hinaus einen positiven Zusammenhang zwischen dem Cortisolspiegel und altruistischem Entscheidungsverhalten.
Womöglich könnte das Stresshormon Cortisol also für die gefundenen Effekte verantwortlich sein. Weiterhin zeigten die Studienergebnisse, dass im Vergleich zu anderen Persönlichkeitseigenschaften Verträglichkeit beziehungsweise Liebenswürdigkeit (agreeableness) eine wichtigere Rolle bei moralischem Entscheidungsverhalten in Alltagssituationen zu spielen scheint. Untersucht wurden auch die Eigenschaften Neurotizismus, Extrovertiertheit, Offenheit für neue Erfahrungen und Gewissenhaftigkeit.
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