Ausland

WHO erkennt Noma als vernachlässigte Tropenkrankheit an

  • Mittwoch, 27. Dezember 2023
/picture alliance, mylene Zizzo, Wostok Press
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Genf – Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat auf Antrag von Nigeria und mit Unterstützung der Ärzte ohne Grenzen (MSF) Noma zur 21. vernachlässigten tropischen Erkrankung (NTD) erklärt.

Es handelt sich um eine schwere Gingivitis, die aufgrund von Unterernährung und Immunschwäche außer Kontrolle gerät und zur Nekrose von Knochen und Weichteilen im Gesichtsbereich führt. Die Erkrankung ver­läuft in unterversorgten Regionen Afrikas fast immer tödlich.

Die WHO hatte lange gezögert, Noma zu einer „neglected tropical disease“ (NTD) zu erklären, weil die Erkran­kung im Gegensatz zu den anderen 20 NTD nicht durch einen einzelnen Erreger ausgelöst wird, der geogra­fisch auf tropische Regionen beschränkt ist. Noma wird durch eine Vielzahl von Mikroorganismen ausgelöst. Häufig sind bei den einzelnen Patienten mehrere Bakterien beteiligt.

Auslöser der Erkrankung ist vielfach eine mangelhafte Mundhygiene. Sie ermöglicht das Eindringen von Krank­heitserregern in die Gingiva. Im Stadium I bildet sich eine akute nekrotisierende Gingivitis. Die schmerz­haften Geschwüre erschweren dem Kind die Nahrungsaufnahme, dessen ohnehin prekäre Versorgung mit Nährstoffen und Vitaminen weiter herabgesetzt wird. Bei vielen Kindern geht der Erkrankung eine akute Infektion etwa Masern oder Windpocken voraus, die das Immunsystem weiter geschwächt hat.

Im Stadium II kommt es zu einer äußerlich sichtbaren Schwellung von Lippen, Wangen, Augen und anderen Gesichtsbereichen. Sie kündigt das Stadium III an. Es kommt dann zu einer Gangrän mit einem irreversiblen Verlust von Gewebe. Im Stadium IV kommt es unter Bildung von Narben und der Entstellung des Gesichts zu einer Defektheilung – sofern die betroffenen Kinder die Infektion überleben. Die Sterberate soll in abgele­genen Regionen Afrikas südlich der Sahara bei 90 Prozent liegen.

Im Frühstadium kann die Erkrankung ohne Folgen ausheilen, wenn die Ernährungs- und Vitamindefizite der Kinder ausgeglichen und die Krankheitserreger mit Antibiotika und lokalen Antiseptika rechtzeitig behandelt werden. Die WHO Afrika empfiehlt im Stadium I eine Kombination aus Amoxicillin und Metronidazol sowie Chlorhexidin und Wasserstoffperoxid zur Reinigung von Mund und Zahnfleisch.

Ab dem Stadium II empfiehlt die WHO eine von 2 Therapien. Die 1. Therapie umfasst die gleichzeitige Anwen­dung von Amoxicillin, Clavulansäure, Gentamicin und Metronidazol. Die 2. Option umfasst die gleichzeitige Anwendung von Ampicillin, Gentamicin und Metronidazol.

Viele Patienten benötigen anschließend eine plastische Operation zur Rekonstruktion des Gesichts. Die nigerianische Regierung hat im Nordwesten des Landes in der Stadt Sokoto eine Spezialklinik eingerichtet. Dort wurden mit Unterstützung der Ärzte ohne Grenzen seit 2014 insgesamt 1.203 Operationen an 837 Patienten durchgeführt.

Die haben die Initiative des nigerianischen Gesundheitsministeriums unterstützt, das im Januar 2023 die Aufnahme von Noma auf die Liste der NTD beantragt hat zusammen mit 31 anderen Mitgliedsländern. Das „Strategic and Technical Advisory Group for Neglected Tropical Diseases“ (STAG-NTD) hat dann am 12. Oktober dem Antrag stattgegeben. Die WHO hat die Aufnahme auf die Liste dann am 15. Dezember verkündet.

Dem Vernehmen nach hat sich die WHO lange geziert. Tatsächlich ist Noma keine klassische Erkrankung der tropischen Regionen. Sie ist in erster Linie Folge einer Unterernährung in Kombination mit mangelnder medizinischer Betreuung und kann in allen Weltregionen auftreten. Nach Angaben der MSF war Noma früher auch in Europa weit verbreitet. Es verschwand, als sich die Lebensbedingungen und der Zugang zur Gesundheitsversorgung verbesserten.

Die Krankheit wurde erstmals von Hippokrates im 5. Jahrhundert v. Chr. erwähnt. Die erste medizinische Beschreibung von Noma stammt aus dem Jahr 1595. Damals wurde sie als „Wasserkrebs“ bezeichnet. In Europa sind während des Zweiten Weltkriegs in Konzentrationslagern Erkrankungen aufgetreten.

Wie viele Menschen aktuell betroffen sind, ist nicht bekannt. Eine Publikation der WHO aus dem Jahr 1998 schätzte die globale Zahl der jährlichen Neuerkrankungen auf 140.000 Fälle. Seit Anfang der 2000er-Jahre wurden in der wissenschaftlichen Literatur über 13.000 Noma-Fälle gemeldet.

Die Erkrankungen treten auch außerhalb des „Noma-Gürtels“ auf, der sich in Afrika von Mauretanien bis Äthiopien erstreckt. Erkrankungen wurden auch in anderen afrikanischen Ländern, aus Asien, dem asiatisch-pazifischen Raum, Amerika, dem Nahen Osten und selbst aus Europa gemeldet.

Mediziner des Hammersmith Hospitals in London stellten vor einigen Jahren in The Lancet Infectious Diseases (2017; DOI: 10.1016/S1473-3099(17)30263-3) den Fall eines 43-jährigen Mannes mit deutscher Herkunft vor. Er hatte lange auf Kreuzfahrtschiffen und zuletzt in London als Patissier gearbeitet. Der Patient hatte die Infektion lange ignoriert. Als er sich mit einer großen oralen Läsion in der Notfallambulanz der Klinik vorstellte, waren bereits Teile der Wange zerstört. Gingiva und Zähne waren von außen zu sehen.

Der Patient hatte eine HIV-Infektion nicht behandelt. Die CD4-Zellzahl war auf 78 Zellen pro µl gesunken, die Viruslast betrug 140.028 Kopien pro Milliliter. Die Ärzte behandelten den Patienten intravenös mit Amoxi­cillin / Clavulansäure und Metronidazol, substituierten Vitamin B und C und führten ein Débridement der Wunden durch.

Das Immunsystem erholte sich unter einer antiretroviralen Therapie. Nach 3 Monaten konnte eine erste rekonstruktive Operation durchgeführt werden. Der Gewebedefekt im Gesicht wurde mit einem freien Unterarmlappen gedeckt. Weitere rekonstruktive Eingriffe waren zum Zeitpunkt des Berichts geplant.

rme

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