Ärzteschaft

„Wir benötigen verbindliche Standards für eine rationale Antibiotikatherapie“

  • Montag, 9. Dezember 2024

Datteln – Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat kürzlich die „World Antimicrobial Resistance (AMR) Aware­ness Week“ durchgeführt, um auf die weltweit zunehmenden Antibiotikaresistenzen aufmerksam zu machen. Eine Möglichkeit, Antibiotikaresistenzen zu minimieren, ist der Aufbau von Antibiotic-Stewardship-Netzwerken (ABS-Netzwerken), in denen die beteiligten Akteure gemeinsam und strukturiert einen angemessenen Einsatz von Antibiotika organisieren.

Anke Hildebrandt vom ABS-Netzwerk in Westfalen-Lippe erklärt im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt die Arbeit des Netzwerks.

Anke Hildebrandt/St. Vincenz-Krankenhaus Datteln
Anke Hildebrandt/St. Vincenz-Krankenhaus Datteln

Fünf Fragen an Anke Hildebrandt, ABS-Netzwerk Westfalen-Lippe

Frau Doktor Hildebrandt, bitte beschreiben Sie, wie es zur Gründung des Netzwerks in Westfalen-Lippe kam.
Die Gründung des ABS-Netzwerks Westfalen-Lippe erfolgte im No­vember 2022 in Bochum auf der Basis bereits existierender lokaler Initiativen etwa in Bielefeld, Bochum, Datteln, Münster und Rheine.

Ausgangspunkt der Initiative war die Vernetzung von möglichst vielen an ABS interessierten Fachleuten in der Region, dazu die fachgruppen- und sektorenübergreifende Kommunikation und Kooperation zwischen ambulanter und stationärer Medizin.

Wichtig ist uns zudem die Einbeziehung von für ABS elementaren Disziplinen wie die Mikrobiologie und die Pharmazie, das kommunale Gesundheitswesen und regionale medizinische Verwaltungsstrukturen in Westfalen-Lippe. Diese Form der Kooperation ist bislang bundesweit einmalig.

Wie sieht die Arbeit des Netzwerks aus?
Seit der Gründung des Netzwerks haben wir zahlreiche Online-Work­shops zu aktuellen infektiologischen beziehungsweise ABS-Themen durchgeführt. Einmal im Jahr treffen wir uns zusätzlich in Präsenz: in diesem Jahr vor kurzem am Universitätsklinikum Münster. Aufgrund der Besonderheiten im Kindesalter entstand innerhalb des Netzwerks eine separate Arbeitsgruppe „ABS in der Kinderchirurgie und Pädiatrie“.

Ein Kernstück der Netzwerkaktivitäten ist die Entwicklung von Antibiotikatherapieempfehlungen im ambulanten Bereich für die Fachgruppen Gynäkologie, Allgemeinmedizin, HNO, Pädiatrie und Urologie auf lokaler Ebene. Das passiert bottom-up unter Beteiligung der lokalen Fachgruppen, um die Praktikabilität und Akzeptanz der Em­pfehlungen zu erhöhen. Für den stationären Bereich – wo es oft bereits hausinterne ABS-Empfehlungen gibt – entwickelten wir eine Mustergeschäftsordnung für ABS-Teams.

Aus dem Netzwerk heraus entstanden bislang gemeinsame ABS-Forschungsprojekte, zum Beispiel zur resistenz­gerechten Helicobacter-pylori-Therapie oder zum Delabeling vermeintlicher Penicillinallergien. In Kooperation mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe entstanden zudem mehrere epidemiologische Arbeiten etwa zum Antibiotikageschehen in der ambulanten Pädiatrie. Über einen E-Mail-Verteiler erhalten unsere Mit­glieder regelmäßige Informationen über geplante Aktivitäten. Eine Internetseite hält relevante Informationen vor.

Was können Ärztinnen und Ärzte in Deutschland tun, um Antibiotikaresistenzen zu reduzieren?
Dass bakterielle Resistenzen ein wesentliches Problem in der Gesundheitsversorgung darstellen, ist Ärztinnen und Ärzten hierzulande bereits sehr bewusst. Es herrscht eine breite Zustimmung in allen ärztlichen Bereichen, dass hier Handlungsbedarf besteht. In der Vergangenheit richtete sich das ärztliche Augenmerk vor allem auf die Vermeidung der Übertragung von resistenten Erregern durch entsprechende Hygienekonzepte.

Seit vielleicht zehn Jahren dringt auch allmählich ins Bewusstsein, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit Antibiotika die zweite, unverzichtbare Säule einer tragfähigen Strategie gegen Resistenzen ist. Letzteres adressiert ja das übergreifende Konzept des ABS.

Wichtig ist insbesondere, dass wir den Ärztinnen und Ärzten die Werkzeuge an die Hand geben, die sie für einen guten Umgang mit Antibiotika benötigen. Das beginnt mit der ärztlichen Ausbildung im Studium und setzt sich mit Weiter- und Fortbildungen im späteren Berufsleben fort, ferner mit Handreichungen aller Art wie Leitlinien beziehungsweise Handlungsempfehlungen. Das alleine reicht aber nicht aus.

Wir benötigen auch verbindliche Standards zumindest für die häufigen Krankheitsbilder: in den Kliniken, aber auch ambulant und in jeder Notfallpraxis. Lokale Fortbildungsformate, die Qualitätszirkel und Ärztenetze sollten die rationale Antibiotikatherapie regelmäßig thematisieren und Therapiestandards konsentieren. Das führt nicht nur zu einer besseren Therapie, sondern auch zu mehr Verordnungssicherheit, Arbeitszufriedenheit und Vertrauen vonseiten der Patientinnen und Patienten. Dabei müssen wir das Rad nicht überall neu erfinden.

Für die meisten Ärztinnen und Ärzte ist die Antibiotikatherapie auch nur eine von vielen Aufgaben. Letztlich ist die Qualität der Kommunikation über Sektor- und Fachgrenzen hinweg ein ganz entscheidender Faktor für die Realisierung einer rationalen Therapie in der Breite der Versorgung.

Ergänzend sollten einerseits die Gesundheitspolitik und die medizinischen Institutionen auf den verschiedenen Ebenen und andererseits die Patienten, deren Verhalten zu Antibiotika ebenfalls eine Rolle beim ärztlichen Verordnungsverhalten spielen kann, mit im Blick stehen. Die Politik sollte die Akteure vor Ort dabei fördernd und fordernd unterstützen und zudem sollten wir den Patienten einen angemessenen Respekt gegenüber Antibiotika vermitteln. Bei all dem können Ärztinnen und Ärzte nachfragend und vermittelnd auftreten.

Welche Auswirkungen werden die Antibiotikaresistenzen aus Ihrer Sicht auf die medizinische Versorgung in Deutschland haben?
Die Auswirkungen von Antibiotikaresistenzen auf die medizinische Versorgung können wir heute schon in den sogenannten Hochprävalenzregionen beobachten, etwa in Südosteuropa oder in Teilen Asiens. Die Versorgung ist in diesen Fällen viel aufwändiger durch zunehmende hygienisch-präventive Maßnahmen und die kompliziertere Antibiotikatherapie von resistenten Infektionserregern.

Zusammen mit dem weltweiten Trend, der insbesondere ältere Patientinnen und Patienten mit Antibiotikaresistenzen betrifft, sind die Folgen der Resistenzen hinsichtlich Morbidität und Mortalität auch Deutschland in überproportionaler Weise zu erwarten.

Wie wichtig sind neue Antibiotika in diesem Zusammenhang?
Zwar können neu entwickelte Antibiotika in dieser Situation dazu beitragen, betroffene Patienten zu behandeln. Ihr Einsatz ist aber komplex, kostenträchtig und bedarf interprofessioneller Expertise, wie sie zum Beispiel in ABS-Teams gebündelt verfügbar ist.

Da solche Antibiotikainnovationen allerdings aktuell und vermutlich auf absehbare Zeit Mangelware bleiben und von Resistenzentwicklungen nicht ausgenommen sind, kann man nur dazu aufrufen, alles zu tun, um die Resistenzentwicklung und -ausbreitung so lange wie möglich in Schach zu halten: durch Hygiene- und Scree­ning­maßnahmen, verantwortungsvollen Umgang mit den verfügbaren Antibiotika und eine gute Überwachung dieser Entwicklungen.

fos

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