Wissenschaft und Politik – oft eine „Zumutung“

Heidelberg/Berlin – Dass das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik fragil ist, verwundert nicht. Beide folgen unterschiedlichen Logiken – hier Erkenntnissuche, dort Mehrheitssuche.
Einerseits sei wissenschaftliche Expertise in der Politik unverzichtbar, sagte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Helmut Frister. Andererseits werde Forschung zunehmend von politischen Strömungen angezweifelt, teilweise diskreditiert oder sogar eingeschränkt. Der Einfluss von Wissenschaft, ihre Kommunikation und ihre Grenzen müssten deshalb in einer demokratischen Gesellschaft immer wieder neu verhandelt werden.
„Die Herausforderungen drängen – und wir brauchen den Mut, Wissenschaft und Politik gemeinsam neu zu denken“, mahnte Frister gestern auf der öffentlichen Herbsttagung des Deutschen Ethikrates in Heidelberg. Unter dem Titel „Wissen und Macht – Wissenschaft in Politik und Gesellschaft“ diskutierten Fachleute aus Wissenschaft, Politik und Medien über das sensible Verhältnis von Erkenntnis, Einfluss und öffentlicher Wahrnehmung.
„Das Thema trifft den Nerv bei uns Forschenden“, sagte Andreas Dreuw, Prorektor für Forschung und Digitalisierung der Universität Heidelberg. Derzeit erlebe man eine wachsende Politisierung der Wissenschaft und spüre, dass Wissenschaftsfreiheit keine Selbstverständlichkeit sei.
Auch in der jüngsten Vergangenheit gab es einen besonderen Stresstest für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik: die Coronapandemie. Darauf wiesen auf der Tagung verschiedene Expertinnen und Experten hin. Was wissenschaftlich begründet war, wurde politisch umstritten; was politisch beschlossen wurde, wissenschaftlich hinterfragt.
„Unliebsame politische Maßnahmen werden bekämpft, indem man die beratende Wissenschaft attackiert“, analysierte der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS), Alexander Bogner. Das habe die Pandemie gezeigt. „Man streitet über Studien, Zahlen und die Zuverlässigkeit von Daten.“ Mitunter würden sogar „alternative“ Wahrheiten mobilisiert, um die Forschenden zu diskreditieren. Auf diese Weise verwandelten sich politische Konflikte in Wissenskonflikte.
Dennoch gilt: „Wissenschaft ist für demokratische Gesellschaften unverzichtbar – nicht als politische Macht, sondern als Quelle abgesicherten Wissens.“ Dies betonte Eva Winkler, Oberärztin für Medizinische Onkologie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg und stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates.
Dabei wies auch sie auf den zunehmend hohen Druck hin, unter dem Wissenschaft stünde: In Ländern mit erstarkenden anti-pluralistischen Strömungen, etwa in den USA, würden ganze Forschungsfelder wie die Gender- oder Klimawissenschaft als „Woke Science“ delegitimiert. Der Begriff wird benutzt, um wissenschaftliche Forschung abzuwerten.
Auch in Deutschland Zunahme der Wissenschaftsfeindlichkeit
Auch in Deutschland gerieten solche Fragen zunehmend in den Fokus, erklärte die Wissenschaftlerin. Der „Academic Freedom Index“ (Index der akademischen Freiheit) zeige, dass sich die globale Wissenschaftsfreiheit zunehmend verschlechtere, auch in Deutschland sei sie rückläufig. Zudem sei auch hierzulande eine Zunahme der Wissenschaftsfeindlichkeit sichtbar. „Dies ist ein Signal“, mahnte Winkler.
Einfach zu beleuchten ist das sehr komplexe Verhältnis von Wissenschaft und Politik jedoch nicht. Winkler fokussierte dabei auf das Spannungsfeld zwischen Erwartung und Realität: „Viele wünschen sich, Wissenschaft möge nicht nur Erkenntnisse, sondern auch unbezweifelbare Problemlösungen liefern.“ Eine solche Erwartung kollidiere jedoch mit dem Anspruch der Wissenschaft, für Dissense, Unsicherheiten und Revisionen offen zu sein.
Auch der Münchner Literaturwissenschaftler Peter Strohschneider, ehemaliger Vorsitzender des Wissenschaftsrates, warnte vor vereinfachten Vorstellungen: „Die wissenschaftliche Beratung von Politik ist als ‚Speaking truth to power‘ (Den Mächtigen die Wahrheit sagen) nicht gut beschrieben. In der Praxis lässt sich die Beratung kaum von Machtbezügen trennen. „Expertise ist immer auch Gegenexpertise“, betonte er. Ohne diese „zumutungsreiche Kontingenz“ seien weder wissenschaftlicher Fortschritt noch demokratisch legitime Entscheidungen zu haben.
Gremien stärken
Von einer „Zumutung“ sprach auch Helge Braun, Präsident der Universität zu Lübeck und ehemaliger Chef des Bundeskanzleramts, bezüglich der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik. Seine Forderung: Je größer und kontroverser der Beratungsgegenstand sei, desto höher sollten auch die Ansprüche an die Zusammensetzung der wissenschaftlich beratenden Gremien sein.
Die Rolle von unabhängigen und legitimierten Gremien müsste gestärkt werden, da in ihnen Meinungen von verschiedenen Expertinnen und Experten abgewogen würden und Einzelmeinungen in den Hintergrund treten würden. Nach seiner langjährigen Erfahrung in Politik und Wissenschaft erreichten interdisziplinäre Beratungsteams oftmals besser einen guten wissenschaftlichen sowie auch politischen Reifegrad ihrer Empfehlungen.
Zudem sollte die Qualität der Politikberatung durch Standards verbessert werden, meinte Braun. Die Evaluation politischer Entscheidungen müsse standardisierter und systematischer erfolgen. „Fundierte politische Entscheidungen setzen nahezu immer wissenschaftliche Erkenntnisse voraus. In der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik ist eine klare Abgrenzung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Ableitung notwendig. Gelingt dies nicht, entstehen Konflikte.“
Ein Defizit sieht Braun im fehlenden „Feedback-Kanal“ nach Entscheidungen – dieser sei „für die Akzeptanz politischer Maßnahmen und die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Politikberatung notwendig“.
Auch Armin Grunwald, Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung (TAB) beim Bundestag, plädierte für klare Rollenverständnisse: Wissenschaft und Politik seien wesensfremd, aber aufeinander angewiesen. Trotzdem schaue oftmals die eine Seite abfällig auf die andere herunter. Dies sei dann tatsächlich häufig eine „Zumutung“, wie es Braun genannt habe.
„Ein häufiges Problem besteht darin, dass Politik meint, genehme Ergebnisse quasi bestellen zu können, oder Wissenschaft glaubt, sie könne selbst Politik machen“, sagte Grunwald. „Politikberatung muss die unterschiedlichen Mandate ernst nehmen – Wissenschaft soll Optionen aufzeigen, die Entscheidung aber bleibt demokratisch legitimierten Institutionen vorbehalten.“
Frank Niggemeier, der im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) verschiedene Gremien wissenschaftlicher Politikberatung betreute, fasste zusammen, worauf gute Politikberatung für ihn beruht: „Die Wirksamkeit hängt davon ab, ob die Ratgebenden wissenschaftlich exzellent, interdisziplinär und kommunikationsfähig sind – und ob ihre Unabhängigkeit gewährleistet wird.“
Auf Unabhängigkeit setzt auch Bettina Rockenbach, Präsidentin der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Sie wies darauf hin, dass die Leopoldina den Auftrag habe, Politik und Gesellschaft auf der Grundlage des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beraten.
Ziel sei es, angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen evidenzbasierte Handlungsoptionen in die öffentliche Debatte einzubringen. „Um einen konstruktiven Austausch zu ermöglichen, erarbeiten wir unsere Stellungnahmen aber unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Einzelinteressen und orientieren uns mit unseren Gesprächsangeboten am politischen Wissensbedarf“, betonte sie.
Vertrauen entstehe dadurch, dass die qualitätssichernde Vorgehensweise im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess nachvollziehbar vermittelt werde, so Rockenbach. Das gelte auch für kurzfristige Beratungsprozesse. Es sei unerlässlich, Entscheidungsspielräume und Zielkonflikte klar und umfassend darzulegen. „Im Dialog entsteht Vertrauen dadurch, dass wir die qualitätssichernde Vorgehensweise im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess nachvollziehbar vermitteln.“
„Wissenschaft ist nicht unpolitisch und Politik ist nicht unwissenschaftlich“, sagte der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder aus Kassel. Es gebe unterschiedliche Logiken, aber wechselseitige Abhängigkeiten. Politik definiere, was als gesellschaftliches Problem gelte, und die Wissenschaft liefere mögliche Orientierung.
Wissenschaftliche Themen, Förderlogiken und Institutionen entstünden unter politischen Bedingungen und Lehrstühle sowie Forschungspolitik prägten die Entstehung von Wissen, so Schroeder. Politik nutze wissenschaftliches Wissen, um Entscheidungen zu begründen, Unsicherheiten zu bearbeiten und Legitimität zu erzeugen.
In einer Politikberatung sieht Schroeder daher keinen bloßen Wissenstransfer, sondern einen Prozess der politischen Umsetzung. Je nach politischer Orientierung werde Wissenschaft unterschiedlich aufgenommen und interpretiert. „Wissenschaft lässt sich nicht eins zu eins in politisches Handeln übersetzen“, so der Politikwissenschaftler.
Politische Systeme unterschieden sich darin, wie sie wissenschaftliches Wissen deuteten, nutzten oder auch ignorierten. „Politik kann Gefahr laufen, eine für das Ziel unzulängliche wissenschaftliche Beratung in Anspruch zu nehmen. Und Wissenschaft läuft Gefahr, nur selektiv und zur reinen Legitimationsressource genutzt zu werden.“ Es brauche gegenseitige Kompetenz für die Entstehungsbedingungen und Grenzen von Wissen und Politischem entscheiden.
Judith Simon, Professorin für Ethik in der Informationstechnologie an der Universität Hamburg, betonte die Ambivalenz von Wissenschaft: „Wissenschaft und wissenschaftliches Wissen haben eine hohe Bedeutung und Geltungsmacht – und sind zugleich umkämpft.“ Objektivität sei kein Gegensatz zur sozialen Dimension der Forschung: „Gerade das Zusammenspiel von Sozialität und Rationalität ermöglicht Objektivität überhaupt erst“, sagte sie.
Wie Wissenschaft in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, zeigte der Kommunikationswissenschaftler Lars Guenther von der LMU München anhand aktueller Forschungsergebnisse. Die Sichtbarkeit von Forschenden – den sogenannten „Visible Scientists“ – beeinflusse maßgeblich das Vertrauen in die Wissenschaft. Gerade in den sozialen Medien müsste Wissenschaft daher sichtbarer werden.
Die Kommunikationsforscherin Edda Humprecht aus Jena wies diesbezüglich auf die Dynamiken der Plattformökonomie hin: „YouTube, X oder TikTok sind heute zentrale Zugangswege zu Informationen. Ihre Logiken der Sichtbarkeit folgen jedoch nicht wissenschaftlichen Kriterien, sondern der Aufmerksamkeitsökonomie“, erklärte sie. „Emotionalisierung, Personalisierung und Reichweite bestimmen, was sichtbar wird. Dadurch geraten wissenschaftliche Fakten in Konkurrenz zu Desinformation.“
Auch Philipp Schrögel von der Technischen Universität Chemnitz betonte, wie wichtig neue Kommunikationsformen seien: „Neben dem klassischen Journalismus haben sich viele direkte Austauschformate etabliert – von Science-Festivals bis zu Street-Art-Projekten. Doch sie erreichen oft nur ein akademisches Publikum. Wir brauchen niedrigschwellige, dialogische und partizipative Formate, die Zugangshürden abbauen.“ Dialogische Formen der Kommunikation und partizipative Formen gemeinsamen Forschens verdienten mehr Aufmerksamkeit.
Marleen Halbach Theile vom Science Media Center Germany erinnerte an die Rolle des klassischen Wissenschaftsjournalismus: „Spezialisierte Journalistinnen und Journalisten entwickeln Urteilskraft, um echte Expertise zu identifizieren. Doch Ressourcen in Redaktionen sind knapp – oft fehlt Meta-Wissen über die Funktionsweise von Wissenschaft.“ Das Science Media Center verstehe sich daher als Intermediär, der fundierte Argumente dann in den öffentlichen Diskurs einbringe, wenn sie einen Unterschied machen könnten.
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