Ärzteschaft

Veränderte Bedrohungslage erfordert bessere Koordination im Gesundheitswesen

  • Donnerstag, 10. Oktober 2024
Generaloberstabsarzt Ralf Hoffmann (links), Schleswig-Holsteins Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken (CDU) und der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt. /Marten Ronneburg
Generaloberstabsarzt Ralf Hoffmann (links), Schleswig-Holsteins Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken (CDU) und der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt. /Marten Ronneburg

Berlin – Das deutsche Gesundheitswesen ist aus Sicht von Fachleuten bisher unzureichend auf einen länge­ren Ernstfall vorbereitet. Kurzzeitige Belastungen wie ein Massenanfall von Verletzten könnten zwar gut bewältigt werden. Im Hinblick auf Szenarien wie den Verteidigungsfall seien jedoch noch viele Fragen offen. Das ist ein Fazit eines heutigen Austauschs von Expertinnen und Experten in Berlin bei einer Tagung der Bundesärzte­kammer (BÄK).

Gute Vorbereitung, ausreichende Vorhaltung, klar geregelte Zuständigkeiten und trainierte Abläufe seien grundlegend, um für den Krisenfall gewappnet zu sein, sagte BÄK-Präsident Klaus Reinhardt. Er habe aller­dings nicht den Eindruck, dass die Vorbereitungen hierzulande ausreichten. Training etwa könne er wenig feststellen.

Die Sorge, die die Fachleute insbesondere umtreibt, ist eine mögliche militärische Auseinandersetzung mit Deutschland als Kriegspartei als NATO-Mitglied, bei der über längeren Zeitraum Schwerverletzte versorgt werden müssen.

„Wie gut kann ein Land auf Krisen vorbereitet sein, wenn schon, wie wir in den letzten Tagen lesen konnten, im Regelbetrieb die Kochsalzlösung fehlt? Wo soll das Personal im Ernstfall herkommen, wenn der Personal­mangel jetzt schon zu langen Wartezeiten und Stationsschließungen führt?“, fragte Reinhardt.

Politischer Appell für ein resilienteres Gesundheitssystem

Die Resilienz des gesamten deutschen Gesundheitssystems müsse für den potenziell eintretenden Ernstfall gestärkt werden, sagte die Gesundheitsministerin Schleswig-Holsteins, Kerstin von der Decken (CDU). Eine schnelle und koordinierte Reaktionsfähigkeit sei entscheidend für die Versorgung. Das Gesundheitssystem müsse entsprechend weiterentwickelt werden.

Die Vorbereitungen auf größere Konflikte mit vielen Verletzten könnten die Länder aber nicht allein schaffen, sagte die Politikerin, die auch Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) ist. Es sei damit zu rech­nen, dass länderübergreifend Versorgungsstrukturen aufeinander abgestimmt werden müssten.

Die Vorbereitung der Krankenhäuser auf kriegsbedingte Gefahren sei nicht Gegenstand der Krankenhaus­re­form. Allerdings habe Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im März angekündigt, das Gesund­heitssystem im Zuge eines gesonderten Gesetzes besser auf Katastrophen und eventuelle militärische Kon­flikte vorbereiten zu wollen.

Ein Gesetzentwurf liege bisher aber nicht vor. „Die Länder hoffen in dieser Sache auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Bund“, sagte die Politikerin.

Die Länder seien zu beteiligen, auch weil sie vor der Aufgabe stünden, mehrere Initiativen zu kombinieren. Neben der laufenden Krankenhausreform nannte die CDU-Politikerin den sogenannten Operationsplan Deutschland (OPLAN DEU). Bei dem Plan handele es sich um ein vertrauliches Papier, an dem kontinuierlich gearbeitet werde.

„Er soll die planerische Vorsorge dafür liefern, dass die erforderlichen zivilen Unterstützungsleistungen im Krisen- und Konfliktfall in verfassungsrechtlichem Rahmen dann auch abgerufen werden können“, sagte von der Decken.

Der Plan geht zurück auf eine Initiative der damaligen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD), die im April 2023 das Territoriale Führungskommando der Bundeswehr mit der Erstellung beauftragte. Er soll die Aufrechterhaltung der Operationsfähigkeit kritischer Infrastruktur im Krisen- und Verteidigungsfall gewähr­leis­ten.

„Aus speziell gesundheitspolitischer Sicht ist uns in der Landespolitik besonders wichtig, dass man diesen Operationsplan Deutschland auch bei anderen Initiativen immer mitdenkt“, mahnte von der Decken.

Zeitenwende betreffe auch die Medizin

Eine hervorgehobene Rolle innerhalb der Krankenhauslandschaft komme im Krisen- und Verteidigungsfall den Universitätskliniken zu, erklärte der Vorstandsvorsitzende der Berliner Charité, Heyo Kroemer. Er teilte von der Deckens Einschätzung, dass Deutschland zwar für Großlagen wie Naturkatastrophen und Terroranschläge gut aufgestellt sei, darüber hinaus aber enorme strukturelle Defizite habe.

„In einem Verteidigungsfall stehen wir vor einer völlig anderen Dimensionalität, vor einer völlig anderen zeit­lichen Komponente und damit vor völlig anderen Notwendigkeiten im Ablauf“, unterstrich er.

Kroemer warb dafür, auf verbündete Nationen zu schauen, die mit dem Ausbau der Resilienz ihres Gesund­heitssystems weiter fortgeschritten seien als Deutschland. So würden beispielsweise Schweden, Norwegen und Dänemark jeweils ein ziviles Krankenhaus damit beauftragen, Aufgaben der nationalen Gesundheits­sicherheit zu übernehmen.

Auch die zivil-militärische Zusammenarbeit im Krisenfall sei in diesen Ländern bereits detaillierter geregelt als in Deutschland. Das brauche ein hohes Maß an Formalisierung mit vielen Verträgen. Das sei zwar müh­selig, aber auch ein lohnendes Investment. Mit Blick auf sein eigenes Haus mahnte Kroemer zum Ausbau und Vorhalten von krisenrelevanten Ressourcen, sowohl in der Ausstattung als auch bei Personal und Ausbildung.

„Wir müssen uns über eine Sache im Klaren sein: Wenn wir zum Beispiel einen größeren radioaktiven Zwischenfall haben, dann ist die Bundeswehr ganz gut aufgestellt. Aber der ganze zivile Bereich hat quasi keine Dekontaminationsmöglichkeiten mehr“, erklärte er. „Das sind doch Dinge, über die man jetzt nachden­ken muss und die man nur gemeinsam mit den zivilen Krankenhausstrukturen lösen können wird.“

Die baulichen und technischen Voraussetzungen an vielen zivilen Standorten seien hierzulande „nüchtern betrachtet nicht up-to-date“. So müssen endlich auch an Faktoren wie eine ausreichende Lager- und Bevor­ratungskapazität gedacht werden. In Schweden beispielsweise sei man diesen Schritt bereits gegangen und schreibe den Krankenhäusern eine Bevorratung für einen fünfmonatigen Betrieb vor.

Auch auf personeller Ebene müsse nun nachgesteuert werden. Es gebe für viele spezifische Krankheitsbilder kaum noch hinreichend ausgebildetes Personal. Es sei an der Zeit, das anzugehen.

Interview mit Ralph Tiesler,

Beim Thema Personal müssten teils auch erst grundlegende Daten gewonnen werden, wie Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), schilderte. So werde stets angegeben, dass es in Deutschland 1,7 Millionen ehrenamtliche Einsatzkräfte gebe.

Allerdings führten zahlreiche Menschen mehrere Ehrenämter aus oder seien hauptberuflich in anderen Be­reichen der kritischen Infrastruktur tätig und würden daher mehrfach erfasst. Bis heute fehlten verlässliche Zahlen, wie viele Menschen tatsächlich im Ernstfall zur Verfügung stehen würden, schilderte Tiesler.

Sanitätsdienst der Bundeswehr: Ziviles Gesundheitssystem zur Unterstützung

Er erkenne zwar ein beginnendes Problembewusstsein in diesen Fragen, sagte Kroemer. Allerdings sei der Austausch zwischen zivilen und militärischen Strukturen noch in erheblichen Teilen individuell und nicht strukturiert. Das müsse sich künftig ändern. „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Zeitenwende die Me­dizin betrifft“, betonte er.

Der Inspekteur des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr, Generaloberstabsarzt Ralf Hoffmann, machte deutlich, dass Deutschland wegen seiner zentralen Lage in Europa bereits in frühen Konfliktphasen als Dreh­scheibe gefordert sein könnte, insbesondere auch in der Gesundheitsversorgung.

Das bedeute auch, dass bis zu mehrere Hunderttausend zusätzliche Kräfte anderer Nationen nach Deutsch­land verlegt werden könnten, um sich bereit zu halten, sagte Hoffmann. Dieses Klientel müsse mit versorgt werden.

Der Sanitätsdienst wäre nach seinen Worten ab einem gewissen Punkt auf Unterstützung des zivilen Gesund­heitssystems angewiesen. Die Akteure dort müssten sich verstärkt auch auf die Unterstützung der Bundes­wehr vorbereiten. Es gelte, die Strukturen zu verzahnen und sich auf Schritte zu einigen.

Denn im Rahmen der Bündnisverteidigung gehe man ungefähr von 300 bis 1.000 Patienten pro Tag aus, die aus dem Einsatzgebiet für eine Krankenhausbehandlung nach Deutschland gebracht werden müssten, sagte Hoffmann. Auch andere Belastungen könnten noch hinzukommen, wie eine Flüchtlingswelle und verletzte Zivilisten aus dem Krisengebiet.

In den fünf Bundeswehrkrankenhäusern verfüge er maximal über 1.800 Betten. „Wenn ich Pech habe, laufe ich nach zwei Tagen über“, sagte Hoffmann. Die besondere Herausforderung im Ernstfall sei aber, dass die Belas­tung über Jahre hinweg jeden Tag anfalle.

Interview mit Generalstabsarzt Ralf Hoffmann

Daher dürfe man es im Gesundheitssystem nicht darauf ankommen lassen, in einem solchen Fall zu impro­visieren. „Es ist notwendig, dass wir uns hier im Land auf eine solche Situation vorbereiten.“ Hoffmann sprach von rund 10.000 dauerhaft in Deutschland benötigten Krankenhausbetten.

Es gelte nun auch zu signalisieren, dass man vorbereitet sei. Auch über das Thema Landesverteidigung müsse man sprechen. Etwa für den Fall einer Besetzung von Teilen des Landes durch einen Gegner gebe es keinen „so richtig guten Plan“, sagte Hoffmann.

Er sei der Überzeugung, dass es ein bereichsübergreifendes Forum brauche, in dem etwa Politik, Vertreter aus dem Gesundheitswesen, aus Ärzteverbänden, Apotheken und Produktionsstätten von Pharmazeutika mitwirk­ten. Es gelte zu überlegen, was im Zustand der Landesverteidigung getan werden sollte. „Ich möchte gern nächstes Jahr dazu einladen, dass wir hier einen solchen Thinktank bilden.“

In der Diskussion wurden bei der Tagung weitere offene Fragen deutlich, beispielsweise wie der Tatsache Rechnung getragen werden kann, dass Krankenhäuser in aktuellen Kriegen oftmals Kriegsziele sind und es womöglich Ersatzstrukturen bräuchte.

Aufgeworfen wurden zudem Fragen nach einer allgemeinen Dienstpflicht zum Abfedern von Personalmangel, nach einer möglichen Triage und zu Katastrophenschutzübungen an Kliniken.

Reinhardt betonte, die Veranstaltung sei auch als Auftakt für einen vertiefenden Dialog mit den politischen Verantwortlichen in Bund und den Ländern sowie allen weiteren beteiligten Akteuren zu verstehen. Mit der Tagung sollte zunächst mehr Bewusstsein für das Thema geschaffen werden.

ggr/lau

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