Politik

Lipödem: Warten auf bessere Versorgung

  • Montag, 26. September 2022
/Deutscher Bundestag, Florian Gaertner, photothek (Archivbild)
/Deutscher Bundestag, Florian Gaertner, photothek (Archivbild)

Berlin – Das Lipödem wird als Krankheit nach wie vor unterschätzt und seine Therapie deshalb auch nicht angemessen von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abgedeckt. Diese Auffassung unterstützen meh­rere Zehntausend Unterzeichnerinnen und Unterzeichner einer Petition, die heute im Bundestag besprochen wurde. Sie fordern eine frühere Erstattung operativer Eingriffe durch die Krankenkassen.

Rund vier Millionen Frauen in Deutschland – jede zehnte – leiden bewusst oder unbewusst an Lipödem, er­klärte Inge Erdinger heute im Petitionsausschuss des Bundestages. Die 65-jährige Düsseldorferin setzt sich seit Jahren mit dem Verein Lipödem Hilfe Deutschland für Frauen ein, die an der auch als Allen-Hines-Syn­drom bekannten Krankheit leiden.

Bei der krankhaften Fettvermehrungsstörung handelt es sich längst nicht nur um ein rein ästhetisches Prob­lem aufgrund der eintretenden Dysproportion durch eine unnatürliche Vermehrung von Fettgewebe an Gesäß, Ober- und Unterschenkeln sowie Ober- und Unterarmen bei gleichbleibendem Hüftumfang.

Vielmehr geht das Krankheitsbild mit Schmerzen und Druckempfindlichkeit sowie oftmals einer Schädigung des Lymphsystems einher. „Täglich leiden Millionen Frauen an Schmerzen und sind in ihrer Lebensführung eingeschränkt“, erklärte Erdinger.

Sie selbst wisse von vielen Fällen, in denen Frauen ihre Berufe als Krankenpflegerinnen oder Erzieherinnen we­gen der Krankheit hätten aufgeben müssen. Zum physischen komme das psychische Leiden aufgrund der kosmetischen Folgen hinzu.

Dabei wäre es – zumindest aus Erdingers Sicht – so einfach: Denn ein Lipödem lässt sich eigentlich operativ gut beheben. Wird im ersten oder zweiten der drei Stadien der Krankheit eine Liposuktion durchgeführt, kann die Patientin mit großer Sicherheit geheilt werden, erklärte Michael Offermann, Facharzt für Chirurgie und Phlebologie sowie ärztlicher Leiter des Standorts Essen des MVZ Gefäßkrankheiten Rhein Ruhr.

Das Problem: Die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt die Kosten einer Liposuktion in den ersten beiden Stadien der Erkrankung nicht. Selbst im dritten Stadium zahlen die Krankenkassen erst seit 2019 und vorerst befristet bis Ende 2024.

Bis dahin sollen nämlich die Ergebnisse einer 2017 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in die Wege geleiteten Erprobungsstudie zur Liposuktion bei Lipödem erwartet werden. Erst wenn die Studienergebnisse vorliegen, will der G-BA abschließend zur Methode für alle Stadien der Erkrankung entscheiden.

Das dauert aus Erdingers viel zu lang. Sie fordert eine Übergangslösung bis zum endgültigen Entscheid 2025. Bis dahin sollen die Krankenkassen ihrer Auffassung nach verpflichtet werden, die Kosten einer Liposuktion in allen Krankheitsstadien zu erstatten. Mehr als 64.000 Menschen unterzeichneten ihre dahingehende Petition in weniger als zwei Monaten.

Offermann stützte ihre Auffassung aus medizinischer Sicht. Er mahnte, dass operative Eingriffe bei Lipödem so früh wie möglich durchgeführt werden müsste, da mit fortschreitender Zeit die Heilungschancen schwin­den würden. Die jetzigen Kriterien würden dem entgegenstehen.

So ziehe der Medizinische Dienst (MD) weiterhin den Body-Mass-Index (BMI) als Kriterium für eine Kosten­über­nahme heran. Liegt dieser über 35, werde sie in der Regel abgelehnt. Das sei längst nicht mehr vertretbar – allein schon, weil mit fortschreitender Erkrankung auch der BMI steige und damit eine Kostenübernahme paradoxerweise unwahrscheinlicher werde. Vielmehr werde heute eine Berechnung des Verhältnisses von Hüfte zu Taille als aussagekräftig angesehen.

Aber so einfach ist auch das nicht. „Wir wissen natürlich, dass der BMI in bestimmten Konstellationen an seine Grenzen stößt“, bekannte Matthias Perleth, Leiter der Abteilung Fachberatung Medizin in der Geschäftsstelle des G-BA. Allerdings sei der BMI international etabliert und könne deshalb nicht ohne weiteres aus einer Leit­linie gestrichen werden. „Das traut sich auch der G-BA nicht so einfach.“

Der G-BA sei beim BMI bereits an die oberste Grenze der Empfehlungen von Experten gegangen, betonte Per­leth. So habe er möglichst vielen Patientinnen die Behandlung zu ermöglichen versucht. Auch fänden sich in der entsprechenden Richtlinie auch keine absolute Grenze – in Einzelfällen seien Ausnahmen also möglich.

Statt frühzeitigem chirurgischem Eingriff werde außerdem viel zu oft auf die konservative Therapie gesetzt, nämlich Kompressionstherapie, kritisierten Erdinger und Offermann. Die sei jedoch völlig verfehlt und ergebe höchstens bei Schmerzpatientinnen Sinn, erklärte Offermann. Die Krankheit heilen könne man höchstens mit einem operativen Eingriff. „Die konservative Therapie verstößt damit eigentlich gegen das Sozialgesetzbuch V“, sagte er.

Ein wesentlicher Grund für die Probleme mit dem MD sei dessen mangelnde Kompetenz auf dem Feld. Die beim MD tätigen Ärztinnen und Ärzte seien „nicht adäquat geschult, um sich auch nur annähernd auf dem Gebiet der Lymphologie auszukennen“, heißt es in Erdingers Petition.

„Ich kann das Anliegen der Petentin nachvollziehen, dass fachlich kompetente Gutachter hier begutachten sollen“, erklärte Sabine Dittmar, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium (BMG). Allerdings würden die MD-Gutachter von der GKV bestellt – das BMG habe damit gar nichts zu tun.

Dass die meisten Ärzte wenig Kenntnis vom Krankheitsbild hätten, liege vor allem daran, dass Lipödem und Lymphologie im Medizinstudium keine oder kaum Beachtung fänden. Das müsse sich ändern, damit Haus-, aber auch Fachärzte wie Gynäkologen oder Dermatologen die Krankheit frühzeitig erkennen.

Offermann bestätigte das. Viele Ärzte hätten keine Ahnung und würden davon ausgehen, dass Betroffene le­diglich übergewichtig seien. Die fehlende Anerkennung als Krankheit oder aber die verweigerte Erstattung operativer Eingriffe durch den MD würden viele Frauen in die Krise stürzen, hatte Erdinger erklärt. Viele würden Kredite aufnehmen und Schulden machen, um die Eingriffe selbst zu zahlen. „Das sind bei vielen Frauen Tragödien“, sagte sie.

Gleichzeitig nahm Offermann seine Kolleginnen und Kollegen aber in Schutz: Lipödem sei erst seit kurzem überhaupt als Krankheit anerkannt und habe erst seit 2017 einen ICD-Code. Deshalb sei es dem G-BA auch kaum möglich, sich statt der eigenen Studie auf Daten aus dem Ausland zu verlassen. Es gebe schlicht keine.

Lediglich in den Niederlanden werde dahingehende Forschung betrieben, die aber auch nicht viel weiter sei als die hierzulande. Seine eigene Einrichtung leiste Pionierarbeit, betonte Offermann. Das Zentrum bilde Ärzte unter anderem aus Portugal, der Türkei, Spanien oder Dubai aus.

Perleth betonte, dass nicht einmal die zuvor genannte Zahl von vier Millionen Betroffenen verbürgt sei: „Wir wissen nicht, wie viele Frauen in Deutschland betroffen sind, es gibt keine soliden Daten dazu.“ Vielmehr sei es andersherum, dass Deutschland Vorreiter bei der Anerkennung und Therapie des Krankheitsbildes sei. In anderen Ländern warte man bereits auf die Ergebnisse der deutschen Studie, um sie für die eigene Nutzen­bewertung heranzuziehen.

lau

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