Ausland

Brexit: Enttäuschung bei Forschern und Industrie

  • Freitag, 24. Juni 2016
Uploaded: 24.06.2016 15:29:22 by maybaum
/dpa

London – Die Briten haben mit einer Mehrheit von 52 zu 48 Prozent dafür gestimmt, aus der Europäischen Union (EU) auszutreten. Damit verabschiedet sich die zweitgrößte Volks­­­wirt­schaft und die Nummer drei bei der Bevölkerungszahl als erstes Land überhaupt aus der Staatengemeinschaft.

Die erste unmittelbare Folge: Der britische Premier­minis­ter David Cameron hat in einer emotionalen Rede an das britische Volk seinen Rücktritt für Oktober angekündigt. Cameron zog damit die Konse­quenzen aus seiner Niederlage beim EU-Referendum. Er liebe sein Land und werde seinen Beitrag dazu leisten, dass die Folgen des EU-Austritts so gut wie möglich bewältigt werden könnten, sagte er in London. „Nun ist die Entschei­dung zum Verlassen der EU gefallen – und wir müssen den besten Weg finden.“ Er wolle alles tun, um zu helfen, betonte er. „Ich glaube aber nicht, dass ich der richtige Kapitän bin, der unser Land an einen neuen Bestimmungsort steuert.“ Dies bedeutet, dass die Austrittsverhandlungen mit der EU weitgehend ohne Cameron stattfinden.

Farage nennt Millionen-Versprechen nach Brexit-Votum einen „Fehler“
Der britische Rechtspopulist Nigel Farage hat sich bereits kurz nach dem EU-Refe­rendum von einem zentralen Versprechen der Brexit-Kampagne distanziert. In der ITV-Sen­dungGood Morning Britain“ sagte der UKIP-Politiker, er könne nicht garan­tie­ren, dass wie von den Brexit-Befürwortern angekündigt 350 Millionen Pfund pro Woche statt an die EU nun an das Gesundheitssystem NHS (National Health Service) gingen. „Das war einer der Fehler, die die ,Leave'-Kampagne gemacht hat“, sagte Farage gestern. Er selbst habe damit nicht geworben. „Sie müssen verstehen, dass ich von der Kampagne ausgeschlossen wurde und ich, wie immer, mein eigenes Ding gemacht habe.“ Farage ist seit Jahren einer der prominentesten Befürworter eines britischen EU-Austritts.

Die Initiatoren der Brexit-Kampagne hatten angekündigt, 350 Millionen Pfund, die aus deren Sicht wöchentlich von den Briten an die EU fließen, in das britische Gesundheits­system zu investieren. Allerdings fließt diese Summe gar nicht. Der Spiegel berichtete, die britische Regierung habe aufgrund eines Sonder­status, den Margaret Thatcher 1984 ausgehan­delt hatte, wöchentliche lediglich 250 Millionen Pfund an die EU überwiesen. Ziehe man die Milliarden ab, die jährlich von der EU auf die Insel fließen würden, blieben noch 110 Millionen Pfund, die Großbritannien netto pro Woche zahle, hieß es.

Auswirkungen auf die Arzneimittelversorgung?
Offene Fragen gibt es viele. Alle müssen nun in den kommenden zwei Jahren zwischen Großbritannien und der EU in den Austrittsverhandlungen erötert werden. Das dürfte auch Aspekte des Gesundheitswesens betreffen: Dürfen ausländische Ärzte und Pflegekräfte weiterhin in Großbritannien arbeiten – und unter welchen Bedingungen wird dies möglich sein? Was geschieht mit der Europäischen Arzneimittelagentur? Wird diese ihren Sitz verlegen müssen? Welchen Einfluss hat der Austritt auf die Arzneimittel­versorgung? Welche Folgen hat der Austritt für die Forschung?

Der scheidende Premierminister betonte in seiner Rede, es werde für die in Großbri­tannien lebenden EU-Ausländer keine unmittelbaren Konsequenzen geben. Sie könnten weiter als EU-Bürger in Großbritannien leben. Auch für die Reisetätigkeit und für Import und Export von Waren gebe es keine schnellen Änderungen, kündigte er an.

Selbst wenn es keine schnellen Änderungen gibt – mittel- und langfristig wird es Auswir­kungen geben. Das gilt sowohl für die EU als auch für Großbritannien. Das British Medi­cal Journal (BMJ) hatte sich kurz vor dem Referendum zu Wort gemeldet und ein Fazit aus einer Serie publizierter Berichte mit Argumenten, in der EU zu bleiben oder sie zu verlassen, gezogen. Die Einschätzung: Die Vorteile – gerade für das Gesundheitswesen und die Forschung – überwiegen die Nachteile bei weitem. Die British Medical Associ­ation (BMA), eine britische Ärzteorganisation und Herausgeber des British Medical Journals (BMJ), wollte sich auf Nachfrage nicht zum Referendum und möglichen Folgen äußern.

Forscher sind enttäuscht
Sarah Main, Director of the Campaign for Science & Engineering, sieht das Ergebnis als „echte Herausforderung“. Gerade die Forschung in Großbritannien habe von der EU profitiert. Nicht zuletzt, weil Wissenschaftler zwischen 2007 und 2013 8,8 Milliarden Euro aus der EU für Forschungsprogramme erhielten – mehr als das Land selbst eingezahlt habe. Darüber hinaus hätten es die Bedingungen der EU Unternehmen und Universi­täten in Großbritannien leicht gemacht, zum Beispiel Spitzenkräfte zu rekrutieren. „Viele Wissen­schaftler und Ingenieure sind enttäuscht“, sagte sie. Main betonte, der Brexit werde ohne Zweifel große Auswirkungen auf Universitäten und Forschung haben.

Ähnlich äußerte sich Sir Robert Lechler, President of the Academy of Medical Sciences. „Das ist ein sehr enttäuschendes Ergebnis für die medizinische Forschung“, sagte er. Nun, nachdem klar sei, dass Großbritannien die EU verlassen werde, sei es notwendig, dass die britische Regierung sich Gedanken darüber mache, wie Wissenschaft und Forschung in Großbritannien künftig gesichert werden sollten.

Industrie sieht große Anstrengungen
Die pharmazeu­tische Industrie in Deutschland äußerte ihre Sorgen hingegen offen. Der Brexit sei „ein Schlag für die Errungenschaften der Arznei­mittelver­sorgung in Europa“, erklärte Martin Zentgraf, Vorstand des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Die EU schaffe durch einheitliche Anforderungen für die Zulassung und Herstellung von Arzneimitteln die Voraussetzung für die länder­über­greifende Versorgung. Sie schaffe einen einheitlichen Binnenmarkt, der den freien Verkehr mit Arzneimitteln ermögliche und damit die Versorgung über nationale Grenzen erleichtere und stabilisiere. Nicht zuletzt erleichtere und fördere sie grenzüberschreitend Forschung und Entwicklung in einem Maße, das einzelne Staaten nicht leisten könnten.

Zentgraf wies darauf hin, dass die pharmazeutische Industrie durch die enge Verflech­tung Großbritanniens in der EU gekennzeichnet ist. „Uns verbinden über Jahr­zehnte gewachsene wechselseitige Handelsverbindungen, die wir nun innerhalb von kurzer Zeit auf eine neue Grundlage stellen müssen – soweit dies überhaupt möglich sein wird“, sagte er. Es werde große Anstrengungen kosten, die neuen bürokratischen Hürden zu nehmen, die infolge des Austritts Großbritanniens aus der Union auf die Unternehmen zukämen.

BAH: EMA muss nach Bonn ziehen
Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller forderte nach dem Referendum, den Sitz der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA von London nach Bonn zu verlegen. Für Bonn als neuen Standort der EMA sprächen viele und gute Gründe, sagte Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BAH. Bereits heute sei Bonn ein bedeutender Standort rund um die Zulassung und Sicherheit von Arzneimitteln. Dort habe etwa das nationale Pendant zur EMA, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, mit 1.100 Mitarbeitern seinen Sitz. Zudem säßen viele Arzneimittel-Hersteller an der sogenannten Rheinschiene.

may/dpa

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