Kassenchefs sehen „Scheinstabilität“ bei Krankenkassen
Berlin – Der Überschuss der Krankenkassen ist so hoch wie nie – gleichzeitig sei die Finanzentwicklung innerhalb der Kassenarten so unterschiedlich wie nie. Etwa 18,6 Milliarden Euro haben die Krankenkassen als Rücklage, 8,7 Milliarden Euro liegen im Gesundheitsfonds, so die Zahlen aus dem Bundesgesundheitsministerium. Die Beitragssätze liegen zwischen 14,9 und 16,1 Prozent, für das geschäftsführende Bundesgesundheitsministerium besteht derzeit kein Grund zur Aufregung.
Im Gegenteil: „Es liegt nun in der Hand der einzelnen Krankenkassen, diese Spielräume im Sinne ihrer Versicherten auszuschöpfen“, erklärte der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) in einer Mitteilung seines Hauses. Er forderte erneut die Krankenkassen auf, die „Spielräume für hochwertige Leistungen bei attraktiven Beiträgen“ nun zu nutzen.
Doch immer mehr Krankenkassen warnen: Unter diesem positiven Ergebnis schlummere eine größere Gefahr, die die Politik derzeit nicht wahrnehmen will. „Die Konjunktur kaschiert die Probleme im System“, sagt beispielsweise Barmer-Chef Christoph Straub. Es sei eher eine „Scheinstabilität“, denn: Sobald sich die Konjunktur verschlechtere, die vielen jungen Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern nicht mehr in Deutschland arbeiten oder verstärkt Leistungen aus dem GKV-System abrufen, könnte es mit der guten Kassenlage vorbei sein.
Sechs Krankenkassen drohen finanzielle Probleme
Dann könnte ein Szenario eintreten, vor dem Experten aus den Krankenkassen jetzt warnen: Etwa sechs Kassen könnten finanzielle Probleme bekommen, von einer Pleite oder Fusionen wären rund 15 Millionen Versicherte betroffen. Aufgrund der aktuellen Haftungsregelungen innerhalb der Kassenarten könnte eine Pleite einer der großen gesetzlichen Versicherer das ganze Kassensystem in eine Unwucht bringen.
Hinweise darauf liefert bereits jetzt ein genauer Blick in die Finanz- und Vermögensergebnisse der Krankenkassen, erklären Experten. So gibt es Kassen im Verband der Ersatzkassen, dazu gehören unter anderem die Techniker Krankenkasse, die Barmer, die DAK-Gesundheit und die KKH Kaufmännische Krankenkasse, die in ihren Bilanzen Vermögenswerte von 64 bis 85 Euro pro Mitglied vorweisen können. Für die Barmer weisen die Zahlen 135 Euro pro Kopf aus. Im Vergleich dazu gibt es im AOK-System Kassen, die deutlich üppiger Ausgestattet sind: So soll die AOK Sachsen-Anhalt 1.212 Euro pro Mitglied als Vermögen besitzen.
Diese Zahlen aus gut unterrichteten Kassenkreisen verdeutlichen das Problem, das sich auch nach der Vorlage des aktuellen und lang erwarteten Gutachtens des wissenschaftlichen Beirates des Bundesversicherungsamtes (BVA) zum Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) nicht zügig verändern lassen: Die Zeit läuft gegen die Bilanzen der Kassen und gegen das Krankenkassensystem in seiner jetzigen Form.
Bundesversicherungsamt fordert kontinuierliche Überprüfung des Risikostrukturausgleichs
Der Chef des Bundesversicherungsamtes (BVA) Frank Plate warnte aber: „Der Morbi-RSA kann nicht alle Probleme in den Krankenkassen lösen.“ Auf der Handelsblatt-Tagung Health 2017 in Berlin Anfang dieser Woche forderte er vom Gesetzgeber eine kontinuierliche Evaluierung des Ausgleiches. Ebenso müsste es ambulante Kodierrichtlinien geben, die bessere Daten produzieren. „Ich appelliere aber auch an die Kassen, sich beim Kodieren an die Spielregeln zu halten“, so Plate. „Das Kodieren ist Sache der Ärzte, auch das sogenannte Right-Coding ist per Gesetz verboten.“
Angesichts der deutlich starten Spreizung bei den Deckungsquoten von Krankenkassen – es wird davon ausgegangen, dass das AOK-System 59 Euro pro Versicherten überdeckt ist, die IKKen aber eine Unterdeckung von 50 Euro und die vdek-Kassen von 35 Euro haben – fordert das Gutachten auch eine neue Regelung bei der Haftung innerhalb der Kassenarten. Kassenexperten sagen, man könne diese Unterdeckung nicht mehr mit Managementfehlern oder Kostenstrukturen erklären. Das Bundesversicherungsamt sieht bei den Deckungsquoten eine Spannweite von bis zu 27,8 Prozent – fordert hier aber noch genauere Untersuchungen, welche Gründe dies haben könnte.
Wettbewerb zwischen regionalen Kassen nicht gegeben
Außerdem verlagern die Wissenschaftler mehr Zeit für weitere Gutachten, um mögliche Veränderungen am System prüfen zu können. Das Gutachten zur Regionalisierung von Beiträgen wird Ende April 2018 erwartet. Die Regionalisierung ist eine Idee, die vor allem aus Bayern gefordert, aber beispielsweise von BVA-Chef Plate abgelehnt wird. „Das ist in der Praxis nicht umsetzbar.“ Das Konzept zielt darauf ab, pro Landkreis je nach Kostenstruktur einen eigenen Zusatzbeitrag zu erheben. Doppelte Haushalts- und Buchführung vor allem für die bundesweiten Kassen wären die Folge – und könnten zu einem großen Problem für diese werden. Der Wettbewerb zwischen regionalen Kassen wie den AOKen und bundesweit geöffneten Kassen sei bereits heute an vielen Orten nicht mehr gesichert, so Kassenexperten.
Für die Vorstände der Krankenkassen geht diese Diskussion bereits viel zu lange. „Ich finde es eigenartig, dass wir schon so lange über mehrere Gutachten diskutieren, aber in der Politik keine Konsequenzen gezogen werden“, sagte Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des vdek-Verbandes bei der Handelsblatt-Tagung. Franz Knieps, heute Vorsitzender des Dachverbandes der Betriebskrankenkassen und früher Berater im Bundesgesundheitsministerium, sieht den RSA immer schon als politisches Instrument an. „Und jetzt wird so getan, als ob die Wissenschaft eine Lösung für die Probleme finden könnte.“ Beiden Chefs der Kassenverbände hielt Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes entgegen, er könne sich „nur die Augen reiben“, bei dieser Diskussion. „Wir alle haben diese Gutachten gewollt, jetzt sollten wir die Ergebnisse nicht bekämpfen“, so Litsch. Er sieht für die Kassen eine „auskömmliche“ finanzielle Situation. „Und wenn wir die Empfehlungen des Gutachtens umsetzen, wird es noch besser.“
Regionalisierung führt zu Wettbewerbsverzerrungen
Jürgen Wasem, einer der Autoren des Gutachtens und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des BVA, wehrte sich gegen die Kritik an dem Gutachten. „Dies ist eine Show der Kassenarten, die in der Empirie so nicht richtig ist.“ Er warnte davor, dass man die 112 Krankenkassen in zu klaren Lagern bewerte. „Es gibt innerhalb der Kassenarten zu unterschiedliche Situationen, selbst bei den AOKen gibt es welche, die deutliche Probleme haben.“ Es sei immer klar gewesen, dass Regionalisierung zu Wettbewerbsverzerrungen führen kann. „So stehen zum Beispiel die DAK oder die TK in Sachsen-Anhalt kaum noch im Wettbewerb mit der dortigen AOK, weil diese so stark ist.“
Diskussionen um den Finanzen der Krankenkasse werden in der kommenden Woche noch einmal zunehmen. Dann tagen die Verwaltungsräte der Krankenkassen und stimmen über den Zusatzbeitrag ab. Die Barmer hat bereits angekündigt, dass sie ihren Beitragssatz stabil bei 15,7 Prozent halten wolle. Die IKK classic senke den Beitragssatz um 0,2 Prozentpunkte, kündigte die Kasse Anfang des Monats an.
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