Risikostrukturausgleich: Gutachter schlagen regionalisierte Zusatzbeiträge vor

Bonn/Berlin – Regional differenzierte Zusatzbeiträge der Krankenkassen, ein partieller Ausgleich der Über‐ und Unterdeckungen – oder ein kombinierter Ansatz aus beidem könnten mittelfristig regionale Verwerfungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi‐RSA) verringern. Das sind Vorschläge, die der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs (RSA) beim Bundesversicherungsamt (BVA) in seinem heute vorgelegten Sondergutachten unterbreitet.
Der Beirat empfiehlt damit mittelfristig ergänzende Regelungen in der bestehenden regionalen Finanzarchitektur der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die regionale Differenzierung der Zusatzbeitragssätze bezeichnen die Gutachter zwar als „Systemwechsel in der Finanzierung der Krankenkassen“. Das Instrument sei aber „grundsätzlich geeignet, einen fairen Wettbewerb in den Regionen zu ermöglichen und die Anreize zu regionaler Risikoselektion zu begrenzen“, heißt es. Für die Umsetzung wären aber „erhebliche konzeptionelle Vorarbeiten anzustellen“.
Mehr Variablen einfließen lassen
Um schnelle Verbesserungen bei den Zuweisungen an die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds zu erreichen, schlägt der Wissenschaftliche Beirat vor, den RSA „zeitnah um einen weiteren Verfahrensschritt mit einer Auswahl von regionalstatistischen Merkmalen“ zu ergänzen. Diese Variablen sollten regelmäßig überprüft werden. In die engere Auswahl könnten dem Gutachten zufolge Merkmale aufgenommen werden, die statistisch das Ausgleichsverfahren zwischen den Krankenkassen verbessern.
Mit den zehn aussagekräftigsten Merkmalen – Sterbekosten, Zuweisungen, Ambulante Pflege, Sterberate, Facharztdichte, Pflegebedürftige, Hausarztdichte, Gesamtwanderungssaldo, personenbezogene Dienstleistungen und stationäre Pflege – sei bereits eine deutliche Verbesserung möglich, rechnen die Gutachter vor. Sie weisen dabei darauf hin, dass der Einfluss der Angebotsvariablen „eher gering“ ausfällt. Der größte Teil der Reduktion sei auf Morbiditäts- und Mortalitätsvariablen zurückzuführen.
Die Anreize, die von einer solchen Ergänzung der Ausgleichsvariablen des Morbi-RSA ausgehen, erachtet der Wissenschaftliche Beirat unter Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsaspekten der Versorgung als akzeptabel. Im Gegensatz dazu raten die Gutachter von Modellansätzen ab, die direkt auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte einen Ausgleich von Unter- und Überdeckungen vorsehen.
Unter- und Überdeckung nicht ganz auszugleichen
Sie betonen aber auch, dass selbst nach einer zügigen Einführung von neuen Variablen und Merkmalen, die die Zuweisungen verbessern würden, am Ende auf regionaler Ebene dennoch Unterschiede zwischen der Höhe der Zuweisungen und den Leistungsausgaben (Unter- und Überdeckungen) bleiben. „Diese regionalen Unterschiede erachtet der Wissenschaftliche Beirat mit Blick auf die damit verbundenen Anreize zur Risikoselektion sowie aus wettbewerblicher Perspektive als problematisch“, schreiben die Gutachter. Daher plädieren sie mittelfristig für einen partiellen Ausgleich und/oder die Regionalisierung von Zusatzbeitragssätzen der Krankenkassen.
Im November 2017 hatte der Wissenschaftliche Beirat bereits ein Sondergutachten zu den Wirkungen des Morbi-RSA vorgelegt. Es enthält umfangreiche Vorschläge, wie das
Ausgleichssystem des Morbi-RSA weiterentwickelt werden kann, wie etwa durch einen
verbesserten Umgang mit Multimorbidität von Versicherten oder den Umstieg von einer begrenzten Krankheitsauswahl hin zu einem Ausgleichsverfahren, in dem alle Krankheiten berücksichtigt werden. Die Regionaldimension konnte damals in dem Sondergutachten 2017 nicht empirisch untersucht werden, da die dazu notwendigen Angaben zum Wohnort des Versicherten erst seit kurzem von den Krankenkassen an das BVA gemeldet werden.
„Der Beirat hat zwei Gutachten mit umsetzbaren Vorschlägen zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs vorgelegt“, kommentierte heute der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats, Jürgen Wasem, die Veröffentlichung. Es sei ein tragfähiges wissenschaftliches Fundament für die Verbesserung der Grundlagen des Wettbewerbs der Krankenkassen und der Versorgung der Versicherten gelegt worden.
„Die publik gewordenen Ergebnisse zeigen, dass der aktuelle Morbi-RSA regionale Ausgabenunterschiede bereits zu einem Großteil ausgleicht“, befand der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, Martin Litsch, kürzlich, nachdem erste Inhalte des Gutachtens durchgesickert waren. Die Behauptung, wonach das Versorgungsangebot in den Regionen einen entscheidenden Einfluss auf das Finanzergebnis der Krankenkassen habe, werde hingegen widerlegt, sagte er.
Auch könnten regionale Ausgleichsfaktoren insgesamt nur einen kleinen Teil der regionalen Ausgabenunterschiede erklären, so Litsch. „Selbst unter Berücksichtigung neu hinzugezogener Einflussfaktoren bleiben regionale Ausgaben- bzw. Deckungsunterschiede weiterhin bestehen“, unterstrich er. Die Finanzergebnisse der Krankenkassen würden sich mit einer Regionalkomponente also kaum verändern.
Die Krankenkassen streiten seit Jahren um die Zuweisung der Mittel aus dem Gesundheitsfonds. Sie werfen sich gegenseitig vor, Einfluss – unter anderem über die Beeinflussung ärztlichen Codierverhaltens – auf die Zuweisungen zu nehmen oder bei den Berechnungen bevorzugt oder benachteiligt zu sein. Die Politik hat das Thema seit längerem auf der Agenda, wollte aber vor schnellen Entscheidungen die Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des BVA abwarten. Die Bundesregierung will sich nach der Sommerpause mit der Reform des Morbi-RSA befassen. Im Koalitionsvertrag wurde festgeschrieben, den RSA weiterzuentwickeln, um ihn vor Manipulation zu schützen.
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