Ärzteschaft

„Ärztinnen und Ärzte sollten Menschen mit HIV ohne Berührungsängste und unnötige Hygienemaßnahmen behandeln“

  • Dienstag, 23. Juli 2024

Berlin – Tausende HIV-Fachleute, Mediziner, Selbsthilfevertreter und politisch Verantwortliche treffen sich in München. Vom 22.-26. Juli wollen sie auf der Welt-Aids-Konferenz (AIDS2024) unter anderem über Prävention und Behandlung der Immunschwächekrankheit diskutieren.

In Deutschland sind die Infektionszahlen bei HIV zuletzt wieder auf Vor-Corona-Niveau gestiegen. Nach jüngs­ten Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) gab es 2023 rund 2.200 neue Ansteckungen, rund 96.700 Menschen lebten hierzulande Ende des Jahres mit einer HIV-Infektion.

Silke Klumb, Geschäftsführerin der Deutschen Aidshilfe /Johannes Berger
Silke Klumb, Geschäftsführerin der Deutschen Aidshilfe /Johannes Berger

5 Fragen an Silke Klumb, Geschäftsführerin der Deutschen Aidshilfe, zur Situation in Deutschland.

Wo sehen Sie hierzulande noch Verbesserungsbedarf beim Kampf gegen HIV/Aids?
Wir blicken auf Jahrzehnte erfolgreicher Arbeit in Deutschland zurück, aber es gibt noch immer Versorgungslücken. Teilweise fehlt es an Res­sourcen, teilweise am politischen Willen – in den Kommunen, in den Ländern und manchmal auch auf Bundesebene.

Die Lücken betreffen vor allem marginalisierte Gruppen wie Drogen konsumierende Menschen, Menschen ohne Krankenversicherung und Menschen ohne Aufenthaltspapiere. Sie führen zu vermeidbaren HIV-Infektionen und Aids-Erkrankungen.

Wie beurteilen Sie die Prävention hierzulande?
Die Präventionsarbeit in Deutschland ist im Vergleich mit anderen Ländern sehr erfolgreich, weil von Anfang an Menschen mit HIV und aus der Selbsthilfe die Verantwortung dafür erhalten haben und auch finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt wurden.

Aber nehmen wir das Beispiel von Menschen, die intravenös Drogen konsumieren: Die Zahl der Todesfälle sowie die Zahl der HIV-Infektionszahlen steigen in dieser Gruppe seit Jahren. Zugleich verhindern Bundes­länder wie Bayern die Einrichtung von Drogenkonsumräumen, die nachweislich Leben retten und Infektionen vermeiden könnten – und verstoßen damit gegen eine klare WHO-Empfehlung.

Viele kommunale Drogenhilfeträger haben nicht einmal mehr genug Geld für die Vergabe steriler Spritzen und Konsumutensilien. In Gefängnissen gibt es die ohnehin nicht. Und bei der Substitutionstherapie ist noch viel Luft nach oben. Wohlgemerkt: Wir reden hier über gut evaluierte Standardmaßnahmen.

Bekommt in Deutschland jeder PrEP und Virostatika, der solche Medikamente benötigt?
Leider nein. Wer krankenversichert ist, bekommt zuverlässig eine HIV-Therapie und hat bei entsprechender Indikation ein Recht auf die PrEP. Aber: Es gibt nun mal auch Menschen ohne Versicherung.

Die PrEP erhalten zurzeit rund 40.000 Menschen, es könnten aber viel mehr sein. PrEP ist in vielen Regionen nicht verfügbar, weil zu wenig Ärztinnen und Ärzte die Versorgung anbieten, so dass weite Anfahrtswege ent­stehen. Aber auch in größeren Städten gibt es teilweise lange Wartelisten. Das ist bei einer Schutzmaßnahme für Menschen mit hohem HIV-Risiko fatal.

Hinzu kommt: Einige Gruppen, zum Beispiel Sexarbeiterinnen, wissen zu wenig von der PrEP oder werden von Ärztinnen und Ärzten abgewiesen, weil diese die PrEP nur schwulen Männern verordnen.

Dramatisch ist der Mangel an Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung beziehungsweise ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland. Es könnten viele Folgeschäden und auch Folgekosten vermieden werden, wenn Menschen schnell Zugang zur Therapie bekommen würden.

Werden HIV-Infizierte im Gesundheitssystem schlechter behandelt?
HIV-positive Menschen werden als Patientinnen und Patienten aber auch als Mitarbeitende diskriminiert. Abgesehen von HIV-Schwerpunkteinrichtungen sind Menschen mit HIV in allen Indikationsgebieten Diskri­minierung ausgesetzt.

Besonders häufig hören wir das von zahnärztlichen Praxen, wo HIV-positive Patientinnen und Patienten oft gar nicht angenommen werden oder immer den letzten Termin des Tages bekommen, damit die ganze Praxis hinterher desinfiziert werden kann – was überhaupt nicht notwendig ist.

Was wünschen Sie sich speziell von Ärztinnen und Ärzten in Bezug auf HIV?
Es gibt immer noch viel zu viele Spätdiagnosen, teils mit fatalen Folgen. Rund ein Drittel der Diagnosen erfolgt erst, wenn bereits ein schwe­rer Immundefekt eingetreten ist, die Hälfte davon sogar erst im Stadium Aids.

Oft wird HIV lange übersehen. Darum sollten Ärztinnen und Ärzte das Thema auf dem Schirm haben und sich gegebenenfalls nicht scheuen, einen HIV-Test anzubieten. Wer sich unsicher fühlt, kann bei uns eine Fortbil­dung machen – das Programm „Let’s talk about Sex“ macht Ärzte fit für Sexualanamnese und offene Gesprä­che.

Prinzipiell sollten Ärztinnen und Ärzte Menschen mit HIV ohne Berührungsängste und unnötige Hygienemaß­nahmen behandeln. Es gilt zu begreifen: Sie stellen keine Gefahr dar – weder in der Praxis noch im Leben generell. Dementsprechend sind auch Kennzeichnungen von Überweisungen nicht akzeptabel.

fri

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