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RKI-Schätzung: Wieder ähnlich viele HIV-Neuinfektionen wie vor Coronapandemie

  • Donnerstag, 11. Juli 2024
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Berlin – Die geschätzte Zahl der HIV-Neuinfektionen ist in Deutschland wieder auf ein Niveau wie vor der Coronapandemie gestiegen. Ausgehend von Modellrechnungen würden für 2023 etwa 2.200 HIV-Neuinfek­tionen (95-%-Konfidenzintervall [KI]: 1.900-2.400) angenommen, geht aus dem heute veröffentlichten Epi­demiologischen Bulletin des Robert-Koch-Instituts (RKI) hervor (DOI: 10.25646/12212). 2019 waren es demnach 2.100 gewesen (95-%-KI: 1.900-2.300).

Seit einem Tiefstand 2020 waren die Zahlen der Modellierung zufolge von Jahr zu Jahr wieder gestiegen. Für 2022 wurden 1.900 Neuinfektionen geschätzt. Als Fazit heißt es nun, dass die Strategie zur HIV-Eindämmung in Deutschland mit etwa dem Ausbau zielgruppenspezifischer Testangebote zwar Erfolge gezeigt habe. Es seien aber auch weitere Anstrengungen nötig.

Das RKI schätzt diese Daten mit Modellrechnungen, da HIV-Diagnosen oft erst Jahre nach der Infektion ge­stellt werden. Die Angaben zu Neuinfektionen beziehen sich auf Deutschland und Menschen deutscher Her­kunft, die sich im Ausland infizierten.

„Die COVID-19-Pandemie hatte in den Jahren 2020 und 2021 die Bedingungen sowohl für Sexualkontakte als auch für Drogengebrauch und HIV-Testungen verändert“, heißt es im Bulletin zur Erläuterung. Durch Limitatio­nen bei der Modellierung sei es möglich, dass die aktuelle Zahl der Neuinfektionen überschätzt werde. Denk­bar ist laut dem Beitrag auch, dass die angenommene Entwicklung zum Teil auf pandemiebedingt verzögerte Diagnosen zurückgeht.

Wie sich HIV-Neuinfektionen je nach Gruppen entwickelten

Etwas mehr als die Hälfte der geschätzten Neuinfektionen von 2023 entfällt auf Männer, die Sex mit Männern haben (MSM, etwa 1.200 Fälle nach 1.100 im Jahr davor). Etwa 620 Menschen infizierten sich mit dem Erreger auf heterosexuellem Weg (2022: 520). Eine Zunahme wird auch durch injizierenden Drogengebrauch ange­nommen, von etwa 370 Neuinfektionen 2022 auf etwa 380 im Jahr 2023.

Das RKI weist auf unterschiedliche Trends in diesen Hauptbetroffenengruppen hin: So bleibe die geschätzte Zahl der Neuinfektionen bei MSM unter dem Niveau des Vorpandemiejahres 2019. Der Rückgang der HIV-Neu­infektionen in der Gruppe sei primär auf die effektive und frühere Behandlung und die gestiegene Test­bereitschaft, breitere Testangebote und frühere Diagnose von HIV-Infektionen sowie die Nutzung der Prä­expositionsprophylaxe (PrEP) zurückzuführen.

Auch wenn die PrEP eindeutig einen belegten individuellen Nutzen bringe, seien Aussagen über den Einfluss auf die epidemiologische Gesamtentwicklung schwieriger. „Obwohl es seit der PrEP-Einführung zu einem Rückgang der HIV-Neuinfektionen in Deutschland gekommen ist, ist dieser sicherlich zum Teil auch weiterhin ein Erfolg der Schutz-durch-Therapie-Strategie“, heißt es im Bulletin.

Bei Menschen, die Drogen injizieren, zeige die Modellierung einen deutlichen Anstieg seit 2010 – nach einer Stabilisierung in den Pandemiejahren steige die geschätzte Zahl der Neuinfektionen aber weiter an. Wichtig sei für die Prävention bei der Zielgruppe unter anderem die Versorgung mit ausreichend sterilen Injektions­utensilien und Opiodsubstitution sicherzustellen.

Der Hinweis auf einen leichten Anstieg an Fällen auf heterosexuellem Übertragungsweg sollte laut RKI zurückhaltend interpretiert werden, da sich von der Modellierung geschätzte Anstiege in der Gruppe in der Vergangenheit nicht realisiert hätten.

HIV-Prophylaxe vor allem bei MSM bekannt

Mit Blick auf heterosexuelle Übertragungen hält das RKI fest, dass die PrEP über die Zielgruppe der MSM hinaus bisher kaum bekannt sei und eine Bereitschaft zur Einnahme nur bestehe, wenn eine HIV-Infektion eines Partners oder einer Partnerin ernsthaft in Betracht gezogen werde.

Zudem gebe es nur wenige PrEP-verschreibende Einrichtungen, deren Angebote sich auch an Menschen mit heterosexuellen Kontakten richteten. Hinzu komme, dass in vielen ländlichen Regionen und manchen größeren Städten der PrEP-Bedarf nicht ausreichend gedeckt sei.

Da HIV in der Regel nicht mehr zum Tod führt, stieg die Anzahl der Menschen, die mit einer HIV-Infektion in Deutschland leben, laut RKI bis Ende vergangenen Jahres auf 96.700 Menschen an. Davon seien etwa 8.200 HIV-Infektionen bisher nicht durch Fachleute festgestellt, so die Schätzung.

Das RKI weist darauf hin, dass etwa mehr Einsende- und Selbsttests helfen könnten, die Zahl der unerkannt HIV-infizierten Menschen zu verringern. Appelle richteten sich aber auch an niedergelassenes ärztliches Fachpersonal in Fachrichtungen wie Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Infektiologie, Gynäkologie und Suchtmedizin.

Diese sollten laut RKI Tests auf HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen entsprechend der Leitlinien anbieten sowie bei möglicher HIV-Symptomatik aktiv einen HIV-Test empfehlen. Wenn Patienten aktiv eine HIV-Testung wünschten, solle dem nach Möglichkeit nachgekommen werden. Entsprechend der Leitlinien solle über die PrEP aktiv nicht nur bei MSM informiert werden.

Nicht alle Gruppen haben Zugang zu fachärzlicher Betreuung

Fast alle Menschen mit bekannter HIV-Infektion erhalten mittlerweile eine antiretrovirale Therapie: Vor 18 Jahren waren es etwa 80 Prozent, 2023 etwa 99 Prozent. Von den Therapien in fachärzlicher Betreuung verliefen etwa 96 Prozent erfolgreich.

In diesen Bereichen seien nun kaum noch weitere Fortschritte zu erzielen, schreibt das RKI. Für bestimmte Gruppen seien aber durchaus Verbesserungen möglich. „Für nach Deutschland Geflüchtete, in Deutschland Asyl Begehrende und auch für Drogengebrauchende gibt es geografische, sprachliche, und lebensweltliche Zugangsbarrieren zu einer solchen fachärztlichen Betreuung.“

Sven Warminsky vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe (DAH) bilanziert: „Die Erfolge bei schwulen Männern machen Mut, könnten aber noch größer sein. Der Anstieg bei Drogen konsumierenden Menschen ist besorg­niserregend und verlangt dringend nach Antworten in der Prävention.“

Sieben Bundesländer würden keine Drogenkonsumräume betreiben, obwohl diese Todesfälle und Infektionen verhindern könnten, bemängelt die DAH. Deutlich mehr Opioidabhängige sollten mit Substitutionsbehand­lungen versorgt werden, zugleich gehe die Zahl der spezialisierten Ärztinnen und Ärzte zurück. „Wir sehen, dass die Erfolge der letzten Jahrzehnte im Drogenbereich bereits bröckeln und immer mehr in Gefahr geraten“, sagte Warminsky. Es brauche nun einen „beherzten Einsatz aller erprobten Mittel“.

Warminsky forderte zudem, bei der PrEP zweigleisig zu fahren. „Zum einen gilt es, dass alle Menschen davon erfahren, wer für die PrEP in Frage kommt. Zum anderen ist die Versorgungsstruktur noch nicht stark genug. Wir brauchen mehr PrEP-verordnende Praxen, um lange Fahrwege und Wartezeiten zu vermeiden.“

Die DAH sieht weiterhin eine „dramatische Versorgungslücke“ bei Menschen ohne Krankenversicherung beziehungsweise Aufenthaltspapieren. Die Folge seien vermeidbare Aids-Erkrankungen und weitere HIV-Infektionen. „Die fehlende Versorgung für Menschen ohne Versicherung oder Aufenthaltspapiere ist menschenrechtlich wie epidemiologisch ein Skandal. Diese Lücke muss noch in dieser Legislaturperiode dringend geschlossen werden“, so Warminsky.

Die Zahlen gab das RKI kurz vor der Welt-Aids-Konferenz vom 22. bis 26. Juli in München bekannt.

ggr/fri/dpa

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