Ärztlicher Nachwuchs sieht Künstliche Intelligenz als große Chance

Leipzig – „Das Ohr des Arztes gehört auf den Körper des Patienten“, lautete das Argument von kritischen Ärzten Anfang des 19. Jahrhunderts bei der Einführung des Stethoskops. Ähnlich würde heutzutage das Thema Künstliche Intelligenz (KI) kritisch beäugt, erklärte heute Pedram Emami, Präsident der Ärztekammer Hamburg.
Auf dem von ihm moderierten Dialogforum mit jungen Ärztinnen und Ärzten im Vorfeld des 129. Deutschen Ärztetages zum Thema „KI konkret im ärztlichen Alltag“ war heute hingegen Konsens: Junge Ärztinnen und Ärzte stehen der Nutzung von Künstlicher Intelligenz offen gegenüber.
Sie sehen darin eine Chance, die Arbeitsbelastung zu reduzieren und die Patientenversorgung zu verbessern. Aus ihrer Sicht könnten viele Anwendungen und Applikationen den Arbeitsalltag erleichtern. So könnten wachsende Dokumentationsansprüche effizient bewältigt werden und Routinearbeit ausgelagert werden. Das Deutsche Ärzteblatt sprach mit Teilnehmenden, wie sie bereits KI nutzen und was ihre Arbeit entlasten würde.
Vor diesem Hintergrund waren sich die jungen Ärztinnen und Ärzte einig, dass die ärztliche Aus- und Weiterbildung künftig darauf auszurichten sei, den Umgang mit KI zu erlernen. „Wir sollten uns die nötigen Kompetenzen dazu strukturiert in der Weiterbildung aneignen können und dies nicht nur privat tun müssen“, sagte Sonja Mathes, Ärztin in Weiterbildung Dermatologie in München. Dies sicherzustellen sei auch eine Aufgabe der Ärztekammern, befand Max Tischler, der bereits seine Facharztweiterbildung in der Dermatologie abgeschlossen hat.
Dass die Kammern jetzt explizit gefordert seien, sieht auch Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin. „Wir müssen uns bewusst machen, dass wir auf einer Reise sind“, sagte er. Die Ärzteschaft müsse die Veränderungen aktiv gestalten, damit wichtige Werte erhalten und umgesetzt würden. „Wir müssen schleunigst ins Handeln kommen“, sagte er. Dass KI künftig zum Wohle der Patientinnen und Patienten eingesetzt werde, sei unter anderem eine Aufgabe der Ärztekammern, erklärte Bobbert.
Es müsse dabei auch sichergestellt werden, dass in der ärztlichen Weiterbildung ausreichend KI-unabhängige Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt würden, damit künftige Ärztinnen und Ärzte das grundsätzliche Handwerkszeug beherrschen würden, betonte Erik Bodendieck, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer. Sie müssten in der Lage sein, die Plausibilität von KI-generierten Empfehlungen zu überprüfen.
Zusatzweiterbildung Medizininformatik wichtig
Um auch entsprechende Kompetenzen an der Schnittstelle zwischen Medizin und Informatik zu haben, werde weiterhin die Zusatzweiterbildung Medizininformatik benötigt, betonte Carina Vorisek vom Berlin Institute of Health (BIH), das an der Berliner Charité angesiedelt ist. Es brauche Leute aus der medizinischen Versorgung, die in informationstechnischen Themen mitreden könnten. Diese Kompetenzen sollten auch im Medizinstudium und in der Weiterbildung verankert werden, forderte sie.
Deutlich wurde heute auch: Der Arzt-Patienten-Kommunikation kommt trotz aller technischer Unterstützung im Sinne des Patientenwohls weiterhin eine zentrale Bedeutung zu. Die sprechende Medizin werde das Entscheidende im Umgang mit KI und deren Akzeptanz bei den Patientinnen und Patienten sein, betonte die Schirmherrin der Veranstaltung und Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, Ellen Lundershausen.
Dass die ärztliche Behandlung sich nicht allein auf Sachwissen stütze, sondern auch viele emotionale und psychische Faktoren bei den Diagnose- und Therapieentscheidungen eine Rolle spielten, betonten auch andere Teilnehmende. Empathische Kommunikation und eine vertrauensvolle Patient-Arzt-Beziehung hätten einen wesentlichen Anteil am Behandlungserfolg und dürften durch den Einsatz von KI nicht in den Hintergrund geraten. Das Gespräch mit dem Patienten müsse als „geschützter Raum“ erhalten bleiben, hieß es.
„Die ärztliche Gesamtverantwortung ist nicht ersetzbar“, erklärte zudem Labormediziner und Vorstandsvorsitzender des Vereins Akkreditierte Labore in der Medizin, Michael Müller. Sie dürfe nicht aus der Hand gegeben werden. KI könne die ärztliche Tätigkeit unterstützen, aber die Verantwortung für Diagnostik, Indikationsstellung und Therapie sei stets ärztliche Aufgabe und dürfe nicht an ein KI-System abgetreten werden. Er forderte zudem Qualitätsrichtlinien zum Umgang mit KI, die Rahmenbedingungen definieren sollten, wie KI sinnstiftend für die Patientenversorgung einzusetzen ist.
Qualität der Daten ist zentral
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Nutzung von KI ist, standardisierte und strukturierte Daten zur Verfügung zu haben, erklärte Müller weiter. Klinische Studien, die etwa für Leitlinien genutzt würden, müssten künftig digital und maschinenlesbare Datenquellen mitliefern, forderte Müller. Das Thema Interoperabilität müsse insgesamt stärker in den Fokus genommen werden.
Beim Training von KI-Anwendungen sei zentral, welche Datengrundlage verwendet werde, betonte die Ärztin in Weiterbildung für Innere Medizin, Nathalie Becker, von der Uniklinik Münster. Wenn etwa ein KI-Tool für Bewerbungsverfahren anhand von Daten entwickelt werde, die hauptsächlich männliche Führungskräfte enthalten würden, werde das Ergebnis auch Männer favorisieren. In der Forschung und Versorgung existierten entsprechend häufig ein deutlicher Gender Data Gap, erklärte sie. Für die Versorgung der Patienten müssten aber alle mitgedacht werden, egal ob etwa weiblich oder nicht-weiß.
Problematisch sei zudem, dass häufig sowohl Daten über KI-Tools an Unternehmen aus dem außereuropäischen Ausland gespendet würden und zusätzlich zahle man für diese Anwendungen noch Geld, bemängelte der Facharzt für Neurologie und Geschäftsführer des gemeinnützigen Start-ups IDM, Nils Schweingruber.
Gesundheitsdaten aus Deutschland sollten deshalb nicht in ChatGPT gepostet werden, betonte er. Allerdings fehle es im Alltag häufig an guten Alternativen. Umso wichtiger sei es, dass KI-Instrumente, die in der medizinischen Versorgung genutzt würden, auch aus der Ärzteschaft heraus trainiert und mitgestaltet würden, sagte er.
Mit den KI-Tools „ARGO“ und „AUREON“ habe sein Unternehmen, das aus der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (UKE) heraus gegründet worden ist, Patientendaten vom UKE genutzt. Das Team von Entwicklern sowie Ärztinnen und Ärzten hätte auf rund sieben Millionen Patientenfälle zurückgreifen können, da das UKE seit 2009 durchgehend digitale Patientenakten verwende.
Das „Speech-To-Text“-Programm AUREON laufe zudem schon an 18 Kliniken, erklärte Schweingruber. Sein Team und er hätten das Tool mit deutschen medizinischen Begriffen trainiert, es soll auch über eine sichere cloudbasierte Lösung auch dem ambulanten Markt zugänglich gemacht werden. Die zweite Anwendung – ARGO – das zur Arztbriefschreibung genutzt wird, sei tief in den Patientenakten des UKE bereits verankert, berichtet Schweingruber.
KI-Lösungen zur Dokumentation und Wissensvermittlung
Auch Constanze Stypula arbeitet an einer Lösung zur Entlastung von Ärzten. Die Geschäftsführerin der Jameda GmbH stellte „Noa Notes“ vor, das ihr zufolge den Dokumentationsaufwand um bis zu 70 Prozent reduzieren könne. Dabei sei es egal, ob es sich um das Anamnesegespräch, den Behandlungsplan, das Aufklärungsprotokoll oder einen Arztbrief handele.
Die technische Lösung basiere auf vier Schritten, die synchron liefen: erstens der Audioaufnahme, zweitens einer Translation, das medizinische Informationen auch bei lauten Hintergrundgeräuschen, starken Akzenten oder Sprechstunden in Fremdsprachen präzise erfasse. In einem dritten Schritt erfolge die Zuordnung der Informationen in die gewünschte Zielstruktur innerhalb der Informationssysteme. Im letzten Schritt könne geprüft, ergänzt und schließlich gespeichert werden.
KI könne zudem nicht nur entlasten, sondern auch Wissen besser zugänglich machen. Der Arzt in Weiterbildung in der Gynäkologie, Sebastian Griewing, arbeitet in einem interdisziplinären Team an einer sowohl app- als auch webbasierten Lösung, um onkologisches Leitlinienwissen für Ärztinnen und Ärzte einfacher zur Verfügung zu stellen.
„Medizinisches Wissen verdoppelt sich inzwischen nach weniger als drei Monaten“, erklärte Griewing, der an der Universitätsklinik Marburg arbeitet. Entsprechend sollte KI künftig dabei helfen, dieses Wissen auch in die medizinische Versorgung zu bringen.
Ein weiteres Beispiel von KI in der Praxis: Ein Instrument, das Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus bei der Risikoprädiktion unterstützen könne. Die Software „MAIA“ von der Tiplu Schweiz AG könne patientenindividuell sowohl auf die Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmter Erkrankungen als auch auf ausgewählte Verdachtsdiagnosen hinweisen, erklärte Lennart Janzen, Geschäftsführer der Firma.
Hierfür würden vorliegende Labor- und Vitalparameter ausgewertet und die Eintrittswahrscheinlichkeiten von Erkrankungen und medizinischen Ereignissen mithilfe KI ermittelt. Diese Risikoprädiktionen basierten auf Machine Learning (ML)-Modellen, die auf einer großen Datenbasis trainiert worden seien.
Zudem liefere das Clinical-Decision-Support-Software eine Begründung zu allen Hinweisen und biete so die Möglichkeit, die Datengrundlage nachzuvollziehen. „KI nützt nur mit Erklärbarkeit“, ist Janzen, der selbst auch Arzt ist, überzeugt. Schlussendlich sei auch eine KI-gestützte Arztbriefgenerierung möglich.
Mit Vorhersagen arbeitet auch der Arzt und Ingenieur Florian Hellmeier. Die Idee einer KI-Anwendung seines Unternehmens x-cardiac GmbH war bei der Nachbesprechung eines Falls auf der herzchirurgischen Intensivstation entstanden.
„Nach menschlichem Ermessen war bei diesem Fall nicht absehbar, dass eine Reanimation eintreten würde“, sagte Hellmeier. Die Trends in den Daten seien jedoch erkennbar gewesen, sie hätten auf Komplikationen hingedeutet. An dieser Stelle habe sich das Team die Frage gestellt, ob Routinedaten genutzt werden könnten, um Komplikationen vorherzusagen.
Entwickelt wurde ein System, das multiple Patientendaten auf der herzchirurgischen Intensivstation erfasst, sodass eine Auswertung in Echtzeit möglich wird. Über das Monitoring an den Patientenbetten könne die ganze Station auf einen Blick überwacht werden und Komplikationsvorhersagen für alle Patienten getroffen werden.
Bei der Überwachung nach Operationen sei dies besonders wichtig, um häufige Komplikationen wie etwa revisionsbedürftige Nachblutungen oder akute Nierenschädigungen vermeiden beziehungsweise frühzeitig behandeln zu können.
Voraussetzung: Gute, digitale Grundausstattung und positive Anreize
Obwohl es bereits einige KI-Projekte gebe, fehle es häufig noch an der digitalen Grundausstattung, kritisierten einige junge Ärztinnen und Ärzte. Die Kommunikation zwischen Arztpraxen und Kliniken sei häufig unzureichend, bemängelte auch die Hausärztin Julia Fritz aus Dresden. Arztbriefe von der Klinik kämen häufig erst drei Wochen später per Post. Bevor man KI nutzen könne, müsste zunächst eine reibungslose, digitale Kommunikation stehen, forderte sie.
Ein Arzt in Weiterbildung aus Ulm berichtete, er erlebe im Alltag häufig „Digitalisierungsverweigerung“ vonseiten ärztlicher Kolleginnen und Kollegen. Andrej Weissenberger, Arzt in Weiterbildung Pädiatrie in Solingen, erklärte, bei der Digitalisierung und Ausstattung von KI dürften nicht nur Unikliniken berücksichtigt, sondern insbesondere kleinere Kliniken dürften diesbezüglich „nicht vergessen werden.“
Man müsse sich auch einmal gegen eine KI-Entscheidung stellen können und diese mit den Patienten besprechen, sagte die Hausärztin Fritz. „Momentan zögere ich aber noch mit dem Einsatz von KI in der Praxis“, sagte die junge Hausärztin. Ihre Patienten müssten sich nach langen Jahren einer analogen Dokumentation erstmal auf die Digitalisierung einstellen.
Um Ärztinnen und Ärzte für die Nutzung von KI zu begeistern, brauche es positive Anreize, betonte die Wissenschaftlerin Vorisek. In den USA gebe es beispielsweise Anreize für Kliniken, Software zu verwenden, die auf offene Schnittstellen setze, weiß die Medizinerin und Wissenschaftlerin. Das Prinzip könnte man in Deutschland nutzen und monetäre Anreize setzen, wer auf den offenen Datenstandard FHIR setze.
„Das gleiche gilt für die Forschung.“ Wenn man Daten maschinenlesbar erhebe, sollte es dafür entsprechende Anreize geben, erklärte Vorisek. Sie sprach sich gegen Sanktionen aus. „Digitalisierung muss Spaß machen.“ Und: Geld mache eben auch Spaß, sagte Vorisek. Müller sprach sich hingegen für mehr „Daumenschrauben“ aus. Softwarehersteller müssten mehr in die Pflicht genommen werden, ihre Lösungen schnittstellenoffen anzubieten, forderte er.
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