Vermischtes

Befragung: Fast jeder zweite Wissenschaftler erlebte Anfeindungen

  • Freitag, 17. Mai 2024
Jens Spahn (CDU, mitte) spricht bei einer Pressekonferenz zur weiteren Entwicklung der Coronavirusinfektionen. Lothar H. Wieler (rechts) und Christian Drosten (links) / pictire alliance
Jens Spahn (CDU, mitte), ehemaliger Bundesgesundheitsminister, spricht bei einer Pressekonferenz zur weiteren Entwicklung der Coronavirusinfektionen. Lothar H. Wieler, ehemaliger Präsident des RKI (rechts) und Virologe Christian Drosten (links) (Archivbild, 2020). /picture alliance, Michael Kappeler

Hannover – Die Mehrheit der Wissenschaftler in Deutschland nimmt eine Zunahme von Wissenschaftsfeind­lichkeit in den vergangenen Jahren wahr. 70 Prozent der Teilnehmenden einer repräsentativen Befragung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) stimmten dieser These auf einer Skala von 1 bis 6 eher bis voll und ganz zu.

Um ein neues Phänomen handelt es sich der Untersuchung zufolge nicht. Es seien auch Fälle erfasst worden, die schon länger zurückliegen, heißt es in einem Kurzdossier zu den gestern vorgestellten Ergebnissen, das dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt. Angefeindet worden seien die Befragten unabhängig von ihrem Status: Eine Häufung etwa bei Menschen mit Professorentitel im Vergleich zum wissenschaftlichen Nachwuchs habe nicht festgestellt werden können.

Annähernd jeder Zweite berichtet von eigener Betroffenheit

Knapp die Hälfte der Forschenden (45 Prozent) erlebte nach eigenen Angaben bereits Belästigungen bezie­hungsweise Angriffe in irgendeiner Form. Am häufigsten wurden herablassende Äußerungen und bewusst verletzende Kritik genannt – mit dem Ziel, die Kompetenz des Forschenden anzuzweifeln.

Für die meisten Befragten führen die Anfeindungen laut der Erhebung zu einer Verunsicherung und Unklar­heit im Umgang damit. In den wenigsten Fällen aber fühlten sich die Betroffenen verletzt oder dazu veran­lasst, ihr kommunikatives Engagement einzustellen.

Besonders schwere Fälle in den Lebenswissenschaften etwas häufiger

Zwischen den Fachbereichen werden Unterschiede in der Häufigkeit von Anfeindungen verzeichnet: In den Ingenieurswissenschaften liegt der Anteil derjenigen, die derartiges erlebten, mit 41 Prozent etwas unter dem Durchschnittswert, während es in den Geisteswissenschaften mehr sind (51 Prozent).

Auffällig: Bei den insgesamt zwar sehr seltenen, aber besonders schweren Fällen wie Vandalismus zeigt sich laut dem Kurzdossier ein leicht überdurchschnittlicher Wert bei den Lebenswissenschaften. Diese Schwer­punkte auf den Lebenswissenschaften werden den Angaben zufolge auch durch die Auskünfte von Befragten in Freitextfeldern deutlich, wo viele berichtete Angriffe diesem Fachbereich zuzurechnen gewesen seien.

Coronapandemie allein wird nicht als Faktor gesehen

Der Leiter der Befragung, Clemens Blümel, sagte dem Deutschen Ärzteblatt, es gehe dabei unter anderem um Menschen aus der klinischen Forschung, Immunologie und Virologie. Für ihn ist es nicht nur die Coronapan­de­­mie mit einer deutlich verstärkten Wahrnehmung von wissenschaftlicher Politikberatung in der Öffentlich­keit, die hinter diesem Phänomen steckt.

„Da kommt eine Reihe von Dingen zusammen“, sagte Blümel. „Generell steht Forschung am Menschen stärker unter gesellschaftlicher Beobachtung, es gibt bei vielen Themen eine persönliche Betroffenheit.“ In den offe­nen Antworten schilderten Betroffene Anfeindungen, die einen höheren Grad der Emotionalisierung zeigen. Als Beispiel wird etwa genannt, dass ein Impfgegner in sozialen Medien Wissenschaftler oder Politiker, die wissenschaftsbasierte Entscheidungen treffen, als Nazis beschimpft habe.

Forscher Blümel vermutet, dass die Emotionalisierung in solchen Fällen nicht nur auf die wissenschaftliche Tätigkeit zurückzuführen ist, sondern auch auf die damit zusammenhängenden politischen oder gesellschaft­lichen Entscheidungen. Daher könne das Gefühl rühren, dass einem etwas vorgeschrieben werde.

Gemeinsame Auftritte von Politikern und Wissenschaftlern, etwa auf Pressekonferenzen während der Pande­mie, könnten diesem Eindruck Vorschub geleistet haben, sagte Blümel. Während der Coronapandemie berich­te­ten viele Fachleute nach Medienauftritten von Beleidigungen und Hasskommentaren bis hin zu Morddro­hungen.

Die Virologin Isabella Eckerle schrieb auf der Plattform X (früher Twitter), die Ergebnisse deckten sich mit ihren eigenen Erfahrungen, „und all das ist eine massive Gefahr für die Wissenschaft & die Gesellschaft ins­gesamt“. Institutionen seien oft überfordert, hätten keine Erfahrung mit dem Phänomen und könnten kaum helfen.

Anfeindungen nicht nur im Netz

Generell zeigt die Erhebung aber auch, dass Anfeindungen nicht nur von außen kommen, sondern auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern selbst verübt werden. Diskriminierung etwa wird demnach auch am Arbeitsplatz oder bei Konferenzen erlebt. Abwertung des Wissens beispielsweise wird häufiger mit sexisti­schen oder rassistischen Angriffen in Zusammenhang gebracht, hieß es. „Frauen berichten diese Vorfälle etwas häufiger als Männer.“

Eine der ersten bundesweiten Erhebungen zum Thema

Für die Untersuchung waren rund 2.600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwischen Ende September und Dezember 2023 online befragt worden. Rund 250 Befragte nutzten die Möglichkeit, Erlebnisse zum Thema Anfeindungen in einem Freitextfeld zu schildern.

Eine Person erhielt demnach die Drohung: „Warte ab bis wir an der Macht sind, dann wirst du sehen was wir mit so Menschen wie dir machen!“

In der Stichprobe waren Angehörige verschiedener Statusgruppen und Disziplinen vertreten. Laut den Ver­fassern handelt es sich um eine der ersten Erhebungen zum Thema mit deutschlandweiter Abdeckung.

Die Studie des DZHW mit Sitz in Hannover entstand in Kooperation mit dem Projektverbund KAPAZ (Kapazi­täten und Kompetenzen im Umgang mit Hassrede und Wissenschaftsfeindlichkeit).

Seit Juli 2023 gibt es eine zentrale bundesweite Beratungsstelle für Forschende (Scicomm-Support), die Un­terstützung bei konkreten Anfeindungen leisten will. In deren Arbeit sollen die Umfrageergebnisse auch einfließen.

Ausschuss für Stärkung der Wissenschaftskommunikation

Unterdessen hat sich der für Bildung und Forschung zuständige Ausschuss des Bundestages vor wenigen Tagen für eine Stärkung der Wissenschaftskommunikation ausgesprochen. Der Ausschuss stimmte in seiner Sitzung vorgestern einem entsprechenden Antrag der Koalitionsfraktionen von SPD, Grünen und FDP zu.

Darin geht es unter anderem darum, dass Wissenschaftskommunikation systematisch auf allen wissen­schaft­lichen Karrierestufen und als integraler Bestandteil der Forschungsförderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) verankert werden sollte.

Als ein Baustein wird in dem Antrag auch das Schützen von Wissenschaftlern angemahnt, die Anfeindungen oder konkreten Bedrohungen ausgesetzt sind. Auch eine systematischere Dokumentation solcher Vorkomm­nisse und die Prüfung der Notwendigkeit einer Nationalen Kontaktstelle sind Themen.

Für den Antrag votierten die Fraktionen, die den Antrag gestellt hatten, sowie die CDU/CSU-Fraktion. Die AfD-Fraktion und die Gruppe Die Linke enthielten sich.

ggr/dpa

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