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Begleiterhebung: Cannabis wird vor allem gegen chronische Schmerzen eingesetzt

  • Mittwoch, 6. Juli 2022
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Bonn – Cannabis als Medizin wird vorrangig gegen chronische Schmerzen (76,4 Prozent) eingesetzt. Weitere häufig behandelte Symptome sind Spastik (9,6 Prozent) beziehungsweise Anorexie/Wasting (5,1 Pro­zent). Das geht aus der heute veröffentlichten Begleiterhebung des Bundesinstituts für Arznei­mittel und Medizinpro­duk­te (BfArM) hervor.

Bezogen auf alle Cannabisarzneimittel sind demnach die behandelten Personen im Durchschnitt 57 Jahre alt und in der Mehrzahl weiblich. Eine Besonderheit stellt die Behandlung mit Cannabisblüten dar. Hier lag das Durchschnittsalter der Begleit­erhebung zufolge bei 45,5 Jahren und mehr als zwei Drittel der Behandelten waren männlich.

„Bezogen auf den THC-Gehalt werden diese Patientinnen und Patienten mit einer vielfach höheren Dosis therapiert und berichten dreimal häufiger von einer euphorisierenden Wirkung“, schreibt das BfArM.

Die Ergebnisse sind Teil eines Abschlussberichts zu einer Begleiterhebung, die der Gesetzgeber beauftragt hatte. In die Auswertung sind nach Angaben des BfArM seit 2017 anonymisierte Daten von Cannabis-ver­schreibenden Ärzten zu rund 21.000 Behandlungen mit Cannabisblüten und -extrakten sowie mit Dronabinol, Nabilon und Sativex eingeflossen.

Die Zahlen sind nur ein kleiner Ausschnitt der Gesamtmenge an Cannabisverordnungen. Allein im Jahr 2020 und im ersten Halbjahr 2021 wurden mehr als 520.000 Rezepte zulasten der gesetzlichen Krankenversiche­rung (GKV) ausgestellt.

Ärzte, die Cannabis verschreiben, waren angehalten, nach einem Jahr oder bei The­ra­pieabbruch die Befragung zur Begleiterhebung auszufüllen und an das BfArM zu übermitteln. Daten dazu, wie vollständig der Rücklauf gewesen ist, wurden nicht erhoben.

Das Bundesinstitut betonte, dass es sich bei der Begleiterhebung nicht um eine klinische Studie zur Prüfung der Wirksamkeit und Sicherheit handelt. Die Auswertung der anonymisierten Behandlungsdaten könne aber Hinweise auf mögliche Anwendungsgebiete, Nebenwirkungen und auch Begrenzungen einer Therapie mit Cannabisarzneimitteln liefern.

Skepsis wegen der Datengrundlage

Forscher und Ärzte betrachten die Ergebnisse des BfArM-Berichts mit Skepsis, sehen aber zum Teil auch eini­ge positive Ansatzpunkte. „Der Bericht hat vor allem zwei Kernprobleme: Aufgrund der kleinen, unvollständi­gen Stich­probe der tatsächlichen Verordnungen entspricht er nicht der gesamten Verordnungsrealität“, erläu­terte Frank Petzke, Leiter Schmerzmedizin, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsmedizin Göttingen.

Der Bericht basiere nur auf Einschätzungen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, was ein schwer zu definie­render Bias sei. Es sei zudem unklar, wie valide die rückblickende Fremdbeurteilung von Wirkungen und Ne­benwirkungen zu bewerten sei.

Für die Schmerztherapie liefert der Bericht nach Ansicht von Petzke aber dennoch „einige wichtige allge­mei­ne Botschaften“. So sei Schmerz die wichtigste Indikation, dahinter würden sich aber eine Vielzahl von Diag­nosen verbergen, mit letztlich zum Teil kleinen Fallzahlen, wie zum Beispiel für das Fibromyalgiesyndrom. „Daraus lassen sich kaum weitere Schlüsse für die Klinik ableiten, da wir wenig Spezifisches über diese Pa­tienten erfahren, insbesondere auch nicht, warum ihre Erkrankung schwerwiegend war“, sagte er.

Die meisten Patienten erhielten Dronabinol, Sativex oder Extrakte mit sehr moderaten Dosierungen von zehn bis 15 Milligramm THC pro Tag. Dass Schmerz die Indikation ist, die wahrscheinlich am häufigsten von den Kassen akzeptiert wird, verleitet Petzke zufolge dazu, den Einsatz von medizinischem Cannabis auch vor­nehm­lich im Bereich Schmerz zu begründen.

Petzke erklärte, Antragssteller neigten jetzt oder in Zukunft vielleicht eher dazu, einen Antrag im Bereich Schmerz zu stellen. „Einige unserer Patienten wurden zum Beispiel von ihrem Psychiater geschickt mit der Bitte, ob wir nicht einen Antrag stellen können. Hier braucht es bessere übergeordnete Abstimmungen und gemeinsame Behandlungskonzepte.“

„Die Aussagekraft des Berichts ist leider extrem gering. Es steht wenig Neues drin, das wir nicht vorher schon wussten. Der Datensatz ist unvollständig und die Methoden schwach, was die Autoren ja auch selbst stets betonen“, sagte auch Kirsten Müller-Vahl, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psycho­therapie sowie Leiterin der Arbeitsgruppe „Tourette“, Medizinische Hochschule Hannover (MHH), Hannover.

„Das Wichtigste in meinen Augen ist aber, dass der Bericht klar zeigt, bei welchen Indikationen die Kranken­kas­sen die Kosten für Cannabisarzneien übernehmen sollten. Und dies ist sehr eindeutig vor allem in der Schmerztherapie der Fall“, sagte sie.

In dem Bericht werde suggeriert, Cannabisarzneien seien Schmerzmittel. Richtig sei aber: Drei Viertel aller Anträge, die bewilligt würden, entfielen auf den Bereich Schmerz. Kostenübernahmeanträge etwa bei psychia­trischen Indikationen würden hingegen sehr häufig abgelehnt – mit der Begründung, die Leiden seien nicht schwerwiegend genug, es stünden andere Therapien zur Verfügung oder es fehle an Evidenz für die Behand­lung.

„Dies ist der Grund, warum psychiatrische Erkrankungen – aber auch viele andere Störungen – in dem Bericht nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen“, erklärte Müller-Vahl. Sie betonte, selbst in ihrer Spezialambulanz würden in jüngster Zeit fast alle Kostenübernahmeanträge abgelehnt, während vergleichbare Anträge in der Vergangenheit bewilligt worden seien.

Diese Praxis führe auch bei Kolleginnen und Kollegen zu einem gewissen Lerneffekt: „Werden für eine be­stimmte Indikation mehrere Anträge in Folge abgelehnt, dann stellt man irgendwann hierfür keinen Antrag mehr.“ Dieses Wissen, dass in der Begleiterhebung nur die Daten erfasst würden, für die zuvor von den Kran­ken­kassen eine Kostenübernahmezusage erteilt worden sei, müsse bei der Interpretation der Ergebnisse stets berücksichtigt werden, um Fehlbewertungen zu vermeiden.

„Es ist kaum möglich, Aussagen über eine Wirksamkeit der Cannabisprodukte auf Basis der Begleiterhebung zu treffen, weitere systematische Studien sind nötig“, erklärte auch der Präsident der Deutschen Schmerzgesell­schaft, Winfried Meißner.

Bemerkenswert ist der Fachgesellschaft zufolge, dass mehr als drei Viertel aller Verordnungen mit der Indika­tion chronische Schmerzen erfolgt sind. Dies verdeutliche den Bedarf an wirkungsvollen Therapieverfahren in diesem Bereich, unterstreiche andererseits die Notwendigkeit von methodisch belastbaren Studien bei dieser Indikation, hieß es. Denn: Die Begleiterhebung sei „kaum geeignet, Aussagen über eine Wirksamkeit der Cannabisprodukte zu treffen, wie auch deren Autoren anmerken“.

Die Schmerzgesellschaft wies darauf hin, dass insgesamt nur 21.000 Behandlungsfälle gemeldet worden seien, von denen 16.800 hätten ausgewertet werden können. Gleichzeitig werde geschätzt, dass bis zu 70.000 Patien­ten mit Cannabisarzneimitteln behandelt worden sind.

Und besonders häufig (zu 52 Prozent) hätten Anästhesisten Daten erhoben. Aus Kassendaten sei jedoch be­kannt, dass die Hauptverschreiber von Cannabis Hausärzte seien, deren Behandlungen in der Erhebung also deutlich unterrepräsentiert seien. „Durch diese Selektion besonders qualifizierter Ärzte, die auch dokumen­tieren, ist die Erhebung nicht repräsentativ.“

Lukas Radbruch, Direktor der Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Bonn, betonte, er habe von dem Bericht „eigentlich wenig“ erwartet. Von daher sei es schon interessant, dass ein großer Datensatz zur Auswer­tung zusammengekommen sei. Die Aussagekraft sei aber „natürlich stark eingeschränkt, weil dieser Bericht nur einen Teil davon abbildet, was verordnet“ worden sei.

„Zu kritisieren ist, dass es keine Zahlen zur Abhängigkeit in dem Bericht gibt. Zudem wird grundsätzlich nicht so recht klar, dass Cannabis kein harmloses Medikament ist. Es ist kein Allheilmittel, das man breitflächig un­ter die Leute streuen sollte“, sagte er.

Oliver Tolmein, Fachanwalt für Medizinrecht und Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät, Georg-Au­gust-Universität Göttingen, verteidigt die Behörde. „Das BfArM hat es so gut gemacht, wie es unter den Be­dingungen möglich war. Es war klar, dass dieser Bericht keine klinische Studie ersetzen kann und die Daten zeigen ja auch, dass es erheblichen Forschungsnotstand gibt“, sagte er.

Das Interessante an dem Bericht sei für ihn, dass sich vergleichsweise wenig Ärzte beteiligt hätten. Das habe auch etwas mit der Stigmatisierung von Cannabis zu tun. Es gebe nur wenige Ärzte, die über ausreichend medizinische Expertise verfügten mit Cannabis zu therapieren. Dazu komme, dass es für Ärztinnen und Ärzte einen hohen Aufwand bedeute, Cannabis zu verschreiben.

Mit der Vor- und Nachbereitung eines Antrags seien Ärzte nicht selten monate- manchmal sogar jahrelang immer wieder gefordert, auf Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes zu reagieren, ihre Therapien den Gerichten zu erläutern und Stellungnahmen für Anwälte zu verfassen. „Das wird den Ärzten nicht bezahlt – und das nervt sie.“

Ein weiteres Problem ist nach Ansicht von Tolmein, dass die Krankenkassen ein immer klareres Regime ent­wickelten: Cannabisblüten seien ganz unbeliebt. Die Kassen wollten lieber synthetische Cannabisprodukte.

Verordnungen würden am ehesten in der Schmerztherapie zugelassen; sehr selten dagegen zum Beispiel bei ADHS oder posttraumatischen Belastungsstörungen, beides aber häufige Krankheitsbilder bei den Patienten, die Cannabis benötigen. „Ich vertrete knapp ein Dutzend ehemaliger Soldaten, die psychische Störungen ent­wickelt haben. Und Cannabis hilft ihnen.“

Die Ergebnisse des BfArM-Berichts sollen dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als eine Grundlage dienen, um unter ande­rem über mögliche Kassenleistungen zu entscheiden.

2017 waren die gesetzlichen Möglichkeiten für eine Verordnungs- und Erstattungsfähigkeit von Cannabis­arz­neimitteln geschaffen worden, selbst wenn diese Arzneimittel zur Behandlung der bestehenden Symptomatik nicht als Fertigarzneimittel zugelassen sind.

Damit sollten Patienten, denen zur Behandlung keine weiteren Arzneimittel zur Verfügung stehen und bei de­nen die Behandlung mit Cannabisarzneimitteln Aussicht auf Erfolg hat, dem BfArM zufolge nicht der Selbst­therapie oder dem Selbstanbau von Cannabis überlassen werden.

„Diese Neuregelung sollte die Versorgung sichern und Anreize für die Erforschung von Cannabisarzneimitteln schaffen, um mittelfristig die arzneimittelrechtliche Zulassung von Fertigarzneimitteln zu erreichen“, heißt es aus dem Bundesinstitut.

PB/dpa/lau

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