Bislang keine ökologische Nachhaltigkeit der Antibiotikaversorgung

Berlin – Die Einleitung von belasteten Produktionsabwässern der pharmazeutischen Industrie in die Umwelt ist nach wie vor global weit verbreitet und trägt zur Entstehung von Antibiotikaresistenzen bei. Das unterstreicht eine Pilotstudie der AOK-Gemeinschaft unter der Federführung der AOK Baden-Württemberg gemeinsam mit dem IWW Rheinisch-Westfälischen Institut für Wasserforschung sowie dem Umweltbundesamt, die heute der Presse vorgestellt wurde.
„Die Ergebnisse zeigen einen dringenden Handlungsbedarf, der nicht länger in politischen Diskussionen ausgeklammert werden darf“, sagte Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Arzneimittelversorgung müsse künftig ökonomisch, sozial und ökologisch nachhaltig sein.
Als bundesweite Verhandlungsführerin für die Arzneimittelrabattverträge der AOK- Gemeinschaft versuchte die AOK Baden-Württemberg bereits vor drei Jahren Anreize für eine umweltgerechte Produktion von Antibiotika zu schaffen.
Pharmazeutische Unternehmen konnten bei der Vergabe einen Bonus auf ihr Angebot erhalten, wenn sie sich freiwillig verpflichteten, wirkungsbasierte Maximalkonzentrationen im Produktionsabwasser einzuhalten und deren Kontrolle zuzustimmen.
Seit September 2021 wurden so an zehn Standorten in Indien und Europa nach kurzfristiger Ankündigung des Besuchs 21 Überprüfungen von Wasserproben auf die im (Ab-)Wasser enthaltenen Konzentrationen der ausgeschriebenen Vertragsantibiotika durchgeführt. Zu diesen zählten unter anderem Roxithromycin, Ciprofloxacin, Moxifloxacin, Amoxicillin, Cefaclor und Levofloxacin.
Dabei zeigte sich, dass bei fast der Hälfte der untersuchten Produktionsstätten (40 Prozent) zum Teil massive Überschreitungen der vertraglich zugesicherten maximalen Wirkstoffkonzentrationen im Produktionsabwasser oder in der angrenzenden Umwelt vorlagen.
Tim aus der Beek, Bereichsleiter Wasserressourcenmanagement am IWW berichtete heute von besonders hohen Überschreitungen beim Antibiotikum Ciprofloxacin. „Bei Ciprofloxacin haben wir eine Abwasserkonzentration, die den vertraglich vereinbarten Schwellenwert um 11.000 Prozent überschreitet. Auch andere Schwellenwertüberschreitungen lagen in Größenordnungen von mehreren tausend Prozent“, so aus der Beek.
Die höchste Überschreitung ist dem Experten zufolge in einem Gewässer in Indien gefunden worden. Die gemessene Gewässerkonzentration des Antibiotikums Azithromycin habe dort den ökotoxikologisch relevanten Schwellenwert um mindestens 1.600.000 Prozent überstiegen. „Dieses Ergebnis ist sehr besorgniserregend.“
Positiv sei jedoch, dass durchaus ein Umdenken erfolge, räumte er gleichzeitig ein. Der direkte Zugang zu den Produktionsanlagen sei immer gewährleistet worden und auch das Wissen über die umweltkritischen sowie gesundheitsgefährdenden Auswirkungen der Produktion habe sich nachweislich erweitert, so aus der Beek.
Teilweise habe die Sensibilisierung sogar bereits lokale Verbesserungen im Umgang mit Antibiotika und den Produktionsabwässern bewirkt. Doch nicht nur in Indien würden Überschreitungen auftreten, betonte der Experte. Von den beprobten Gewässern würde die Umweltprobe mit den meisten gemessenen Antibiotikafunden einem europäischen Bach entstammen.
„Belastete Produktionsabwässer sind ein wichtiger Grund für die Entstehung von Antibiotikaresistenzen, neben dem Risiko durch den massiven Einsatz von Antibiotika in der Human- und Veterinärmedizin“, erläuterte Malgorzata Debiak, Leiterin des Fachgebiets Arzneimittel am Umweltbundesamt, das die Studie wissenschaftlich begleitet. Man müsse deshalb weltweit die Produktionsbedingungen im Blick haben. „Antibiotikaresistente Keime lassen sich nicht von Landesgrenzen aufhalten“, verdeutlichte sie.
In ihren Handlungsempfehlungen an die Politik fordern die Projektpartner Änderungen im EU-Arzneimittelrecht, um das Problem der antimikrobiellen Resistenzen bei der Wurzel zu packen. Notwendig seien „verbindliche Umweltkriterien für die Zulassung und laufende Produktion ausgewählter Arzneimittel, insbesondere Antibiotika, sowie einheitliche Kontrollsysteme zu deren Einhaltung“, erklärte Bauernfeind.
Wenn die internationale Weltgemeinschaft das Problem der Antibiotikaresistenzen in den Griff bekommen und die damit verbundenen negativen Folgen für Umwelt und Gesundheit reduzieren wolle, müsse es regulatorische europäische Rahmenbedingungen geben.
Bisher sei es im europäischen Recht nicht möglich, im Rahmen von öffentlichen Ausschreibungen Privilegierungen anhand von geografischen Kriterien vorzunehmen, so Bauernfeind. Ein entsprechender Versuch der AOK, bei der Ausschreibung von Arzneimitteln die Lieferkette und damit die geografische Herkunft des produzierten Arzneimittels als Kriterium bei der Vergabe zu berücksichtigen, sei höchstrichterlich als nicht mit dem EU-Vergaberecht vereinbar erklärt worden, heißt es in den Handlungsempfehlungen der Studie.
Auch die auf nationaler Ebene im Zuge des Arzneimittellieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetzes (ALBVVG) versuchte Diversifizierung von Lieferketten bei Antibiotika erreiche keine effektive Verkürzung von Lieferketten, da Arzneimittel „Made in EU“ durch Freihandelsabkommen beispielsweise auch aus Hongkong oder Neuseeland stammen dürften. Damit umweltschädliche Transportwege vermieden würden und die Versorgung abgesichert und der Standort Europa gefördert werden könne, sei eine Änderung des EU-Vergaberechts erforderlich.
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