Brain-Computer-Interface: Vollständig gelähmte Patienten kommunizieren wieder

Genf/Tübingen – Obwohl Patienten mit Locked-In-Syndrom keine motorische Kontrolle über ihren Körper haben, können sie mithilfe einer Gehirn-Computer-Schnittstelle kommunizieren (englisch: Brain Computer Interface, BCI). Einem internationalen Team um den Neurologen Niels Birbaumer von der Universität Tübingen ist es gelungen, vier vollständig gelähmten Patienten Fragen zu stellen, die diese dann einzig mittels ihrer Gedanken mit ja oder nein beantworteten.
Angehörige von vollständig gelähmten Patienten stehen nun Schlange, berichtet Birbaumer. Für eine kommerzielle Lösung habe sich jedoch aufgrund der geringen Betroffenenzahl noch kein gewerblicher Anbieter gefunden. Die Ergebnisse sind in PLOS Biology erschienen (2017; doi: 10.1371/journal.pbio.1002593).
Das internationale Team um den Neurologen Niels Birbaumer bringt zwei Möglichkeiten, Hirnaktivität zu messen, zusammen: die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) und die Elektroenzephalografie (EEG). Dabei wird über die Kopfhaube unter anderem die Veränderung des Sauerstoffgehalts im Blut des Gehirns gemessen, die ein Zeichen für die Aktivität der jeweiligen Hirnregion ist.
Während die vier Patienten, die an amyotropher Lateralsklerose (ALS) litten, 100 bis 150 Fragen in Gedanken beantworten, justieren die Forscher die Messmethoden so, dass danach eine Treffer-Wahrscheinlichkeit von etwa 70 Prozent bei den Antworten gegeben ist. „Das ist nicht schlecht“, sagt Birbaumer. Bei Gesunden sei die Quote nicht unbedingt höher, da sie nicht immer aufpassen.
„Im Gegensatz zu früheren Studien gelang die Entschlüsselung der NIRS-Signale online und nicht erst im Nachgang in Rahmen einer Offline-Analyse“, erklärt Andreas Bender, Chefarzt am Therapiezentrum Burgau, Elektrophysiologie-Experte bei Patienten mit schweren Hirnschädigungen. Dies erlaubte es, den Patienten direkt Rückmeldung über die von ihnen ausgewählte Antwort zu geben. „So wird das Gefühl einer tatsächlichen Kommunikation vermittelt.“
Birbaumer hat die Erleichterung bei den Familienangehörigen miterlebt, wieder mit den gelähmten Menschen kommunizieren zu können, erzählte er. Auch die Pflege werde vereinfacht, wenn der Patient Fragen beantworten kann. Die BCI-Kommunikation ist sehr anstrengend und erfordert äußerste Konzentration. Die Anwendungszeit war daher pro Tag auf etwa eine Stunde begrenzt.
„Viel zuverlässiger“ sei der Einsatz von Augenbewegungskameras, räumt Birbaumer ein. Patienten mit ALS können irgendwann aber nicht einmal mehr ihre Augen bewegen und selbst diese Verständigungssysteme nicht mehr bedienen.
Alle Patienten antworteten mit „Ja“ auf die Frage, ob sie glücklich seien, berichtete Birbaumer. Er und seine Mitarbeiter seien sehr überrascht gewesen, als sie die Patienten zur Lebensqualität befragt hätten. „Was wir beobachteten, war, dass sie, so lange sie genügend Pflege daheim bekamen, ihre Lebensqualität akzeptabel fanden.“ Falls die Technik einmal breit klinisch anwendbar werde, könne sie einen großen Einfluss auf das tägliche Leben der Menschen mit dem sogenannten Locked-in-Syndrom haben.
Kein gewerblicher Anbieter in Sicht
Die Nachfrage von Angehörigen von vollständig gelähmten Patienten sei groß, berichtet Birbaumer, der seine Forschung am Wyss Center in Genf betrieben hat, das von einer Stiftung finanziert wird. Er schaffe es mit seinem Team aber nicht, sich um alle zu kümmern, weil die Feinjustierung der Haube und das Training der Angehörigen viel Zeit kosteten.
Nach Benders Kenntnisstand wird BCI bei Locked-in-Patienten derzeit nur in ganz wenigen Zentren im Rahmen klinischer oder präklinischer Studien eingesetzt. „Es wäre wünschenswert, diese Verfahren durch Forschungsförderung weiter zu unterstützen und nach entsprechender Validierung für Patienten klinisch verfügbar zu machen.“
Eine Haube, die aus derzeit schon am Markt verfügbaren Komponenten besteht, kostet nach Birbaumers Angaben derzeit 50.000 bis 70.000 Euro. Auch er würde es begrüßen, wenn sich ein gewerblicher Anbieter findet. Doch dies scheitere auch an den verhältnismäßig geringen Patientenzahlen, so Birbaumer. Der Verein zur Interessenwahrnehmung von Menschen mit dem Locked-in-Syndrom geht von schätzungsweise 400 bis 500 Patienten mit unterschiedlichen Schweregraden der Lähmung in Deutschland aus.
Die Forschung macht nach Angaben des Wyss-Center bisherige Theorien hinfällig, wonach vollständig gelähmte Personen keine Computer-Gehirn-Schnittstelle bedienen können. Birbaumer will das System so verfeinern, dass die Patienten damit irgendwann auch Buchstaben auswählen können.
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