Politik

Bundes­wehr-Denkfabrik: COVID-19 offenbart Deutschlands Defizite

  • Montag, 6. April 2020
/picture alliance, Marcel Kusch
/picture alliance, Marcel Kusch

Berlin − Die Bundeswehr-Denkfabrik GIDS erwartet in Folge der Corona-Pandemie weit­rei­chende Konsequenzen für die Sicherheitspolitik und einen Wiederaufbau strategischer Reserven.

Ungeachtet günstiger wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen in Deutsch­land decke die Krise immer deutlicher „das Fehlen substanzieller, eigentlich gesetzlich vorgeschriebener Ressourcen auf der Ebene der Kommunen und der Länder sowie den Mangel an strategischen Reserven bei Personal, Material und Infrastruktur beim Bund auf“, heißt es in einem vorgestern veröffentlichten Papier des GIDS, das eine Kooperati­ons­einrichtung der Führungsakademie der Bundeswehr und der Helmut-Schmidt-Uni­versi­tät/Universität der Bundeswehr Hamburg ist.

„Seit Generationen haben sich die Menschen nicht mehr so verwundbar gefühlt“, schrei­ben die Autoren. Engpässe bei lebenswichtigen Gütern wie Medikamenten und Schutz­aus­rüstung zeigten, wie abhängig Deutschland von globalen Lieferketten sei „und dies schon bei Produkten, die für eine weltweit bewunderte Industrienation kein Thema sein sollten“.

„Um strategische Autonomie zurückzugewinnen, muss in Zukunft mehr auf die Diversität der Zulieferer, auf Vorratshaltung und die Vermeidung von Redundanzen geachtet wer­den. Die Bewirtschaftung bestimmter Ressourcen, deren Bedeutung oft erst im Verlauf einer Krise deutlich wird, muss frühzeitiger erkannt und zentral gesteuert werden.“

Seit dem Aussetzen der Wehrpflicht verfüge auch die Bundeswehr über eine nur noch sehr geringe strategische Personaltiefe, heißt es. Das gelte auch für zivile Hilfsorganisa­tionen, die Jahrzehnte von den Zivildienstleistenden profitiert hätten. Zudem seien zahl­reiche militärische Liegenschaften aufgelöst worden, die man nun gut hätte gebrauchen können.

Strategische Reserven fehlen

„Die Fixkosten zur Aufrechterhaltung einer strategischen Reserve, sei es bei Personal oder Material, könnten am Ende weit geringer ausfallen als die unmittelbaren Kosten und vor allem die daraus resultierenden Folgekosten, die in einer Krise entstehen. Hier muss Deutschland dringend nachbessern“, wird geraten.

Zur Aufarbeitung der Krise, „das lässt sich schon jetzt sagen, gehört deshalb eine scho­nungslose Untersuchung der Frage, warum die Welt offensichtlich so blind in die Katas­trophe gerutscht ist“. Vielleicht sei das Desaster auch „billigend in Kauf genommen wor­den“.

Erwartet werden Verteilungskämpfe um staatliche Ressourcen, bei denen Bürger und Or­ga­nisationen Ansprüche geltend machen: „Da der Begriff „Sicherheit“ für die meisten Men­schen jetzt und wohl auch in absehbarer Zukunft fast ausschließlich mit gesundheit­li­cher, sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit in Verbindung gebracht werden dürfte, werden alle Aspekte der militärischen Sicherheit Deutschlands und Europas deutlich in den Hintergrund treten − und das wäre fatal.“

Erhebliche Erwartungen könne es aus der EU geben, besonders aus den „in den Abgrund blickenden Mitgliedsstaaten Italien und Spanien“. „Wenn Deutschland in der zweiten Jah­reshälfte den Vorsitz der EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, wird COVID-19 vermutlich weiterhin das bestimmende Thema sein − und die Erwartungen, insbesondere an Deutschland, dürften immens sein.“

Die Autoren der Denkfabrik erwarten, dass es angesichts der Coronakrise in der internati­o­nalen Politik teils Entspannungssignale geben könnte. Ein Beispiel: „Vermutlich hofft der Kreml auch, das angespannte Verhältnis zur Nato zu entkrampfen, vielleicht sogar eine Brücke zu bauen, die ein Lockern der Sanktionen einleiten könnte.“

Teils wirke die Corona-Pandemie wie ein Brandbeschleuniger. So könne das Gewaltpoten­zial vor allem dort wachsen, wo es Flüchtlinge in großer Zahl gebe. Auch auf autoritär verfasste Staaten wirke das Coronavirus wie ein „toxischer Beschleuniger“.

Das Institut nennt sieben Thesen und Handlungsempfehlungen: So eröffne die Corona-Pandemie vermutlich Chancen für die Außen- und Sicherheitspolitik, „weil sich Hand­lungs­räume zwischen den Akteuren ergeben, die vorher undenkbar waren“. Dem Thema des weltweiten Gesundheitsschutzes und der Frühwarnsysteme müsse generell mehr strategische Beachtung geschenkt werden.

„Wir brauchen eine ehrliche Auseinandersetzung über Deutschlands strategische Reser­ven“, schreiben die Autoren weiter. Auch das politisch mehrfach beerdigte Thema eines verpflichtenden Dienstjahres gehöre wieder auf die Tagesordnung. Gewarnt wird zudem, die Folgen der Pandemie für Elendsregionen der Welt zu unterschätzen.

dpa

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