Ärzteschaft

„Die psychischen Traumatisierungen werden massiv sein“

  • Donnerstag, 10. März 2022

Hannover – Der Bedarf an rehabilitativen Leistungen in der ukrainischen Bevölkerung wird nach dem Krieg erheblich sein. Darauf weist der Chefarzt und Abteilungsleiter der Klinik für Rehabilitations­medizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Christoph Gutenbrunner, im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt () hin.

Der Past President der Global Rehabilitation Alliance erklärt, wie sich das ukrainische Reha-System in den vergangenen Jahren entwickelt hat und weshalb Deutschland der Ukraine bei der Versorgung der Menschen mit Rehabilitationsbedarf unbedingt helfen sollte.

Christoph Gutenbrunner /MHH
Christoph Gutenbrunner /MHH

5 Fragen an Christoph Gutenbrunner, Medizinische Hochschule Hannover

DÄ: Wie ist das System der Rehabilitation in der Ukraine organi­siert?
Gutenbrunner: Das Rehabilitationssystem in der Ukraine befindet sich noch im Aufbau, wobei in den vergangenen fünf bis sieben Jahren deutliche Fortschritte erzielt worden sind.

Traditionell fußt es auf dem in der früheren Sowjetunion üblichen Modell von Rehabilitationskliniken überwiegend in Kurorten, die nicht nur eine medizinische, sondern auch eine soziale Funktion hatten.

Seit 2016 hat die Ukraine begonnen, dieses System zu reformieren beziehungsweise die Rehabilitation neu zu organisieren. Hierzu gehören zum Beispiel die Einführung einiger Rehabilitationsfach­berufe, die bisher nicht existent waren – zum Beispiel im Bereich der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin und der Ergo­the­rapie –, die Implementation von Konzepten der Frührehabilitation im Krankenhaus sowie der Aufbau einer postakuten Rehabilitation.

Gleichzeitig wurden die indikationsbegründenden Modelle adaptiert und auf das WHO-Modell der Funk­tionsfähigkeit umgestellt, was erhebliche Auswirkungen auf die Einstufung von Menschen mit Behinde­rung haben dürfte. Aber – wie gesagt – das System befindet oder befand sich in einem Stadium des Auf­baus beziehungsweise der Reform. Es ist zu befürchten, dass dieser Prozess nun nachhaltig unterbrochen sein wird.

DÄ: Wie ist Ihre Einschätzung: Wie groß wird der Bedarf an rehabilitativen Leistungen nach dem Krieg in der Ukraine sein?
Gutenbrunner: Das ist zahlenmäßig derzeit natürlich nicht abzuschätzen. Aber es ist klar, dass erhebliche Rehabilitationsbedarfe erzeugt werden. Dies sind einerseits Bedarfe, die sich aus den körperlichen Ver­letzungen ergeben, und zwar sowohl in der Zivilbevölkerung als auch bei den Kämpferinnen und Käm­pfern.

Und es kann nicht genug betont werden, dass auch die psychischen Traumatisierungen massiv sein wer­den. Es wird also ein erheblicher Bedarf an traumatologischer und psychosomatischer Rehabilitation ent­stehen. Einen gewissen Eindruck hiervon konnte man schon vor dem jetzigen Angriffskrieg feststellen, nämlich bei den Kämpfern im ostukrainischen Donbass sowie der dort lebenden Zivilbevölkerung.

DÄ: Wie wird das Reha-System in der Ukraine aus Ihrer Sicht nach dem Krieg beschaffen sein?
Gutenbrunner: Auch das ist noch nicht abzuschätzen. Es ist mir derzeit nicht bekannt, ob Rehabilitations­einrichtungen bereits zerstört worden sind. Die Gefahr ist aber in jedem Fall gegeben. Es wird jedoch ein weiteres Problem hinzukommen.

In einem zerstörten Land verschieben sich natürlich die Prioritäten bei insgesamt stark begrenzten Res­sourcen, so dass die Notwendigkeit, Mittel in die Rehabilitation zu investieren, politisch eingefordert wer­den muss. Ich vermute, dass eine erhebliche Aufbauarbeit zu leisten sein wird.

DÄ: Kann und sollte Deutschland die Ukraine bei Reha-Leistungen für Menschen aus der Ukraine unter­stützen?
Gutenbrunner: Ein klares ja! Erstens, weil – wie bereits erläutert – der Rehabilitationsbedarf stark anstei­gen wird und zweitens, weil die Ressourcen im Land für den Aufbau oder Wiederaufbau des Rehabilita­tionssystems aller Voraussicht nach nicht ausreichen werden.

Nicht vernachlässigt werden darf auch der rehabilitative Versorgungsbedarf von Menschen mit Behinde­rungen und älteren Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Diese sind von kriegerischen Aktivitäten naturgemäß am stärksten betroffen und benötigen dringend Hilfen und Unterstützung. Dies ist in einem laufenden Krieg allerdings eine extreme Herausforderung und wird wohl nur durch massive politische Einflussnahme realisierbar sein.

DÄ: Wie könnte Deutschland die Ukraine genau unterstützen?
Gutenbrunner: Ein erster notwendiger Schritt muss die Aufnahme von Menschen mit dringendem Reha­bilitationsbedarf nach Deutschland sein, ähnlich wie sich Kliniken ja schon darauf vorbereiten, schwer­verletzte Menschen akutmedizinisch zu behandeln. Längerfristig muss es aber vor allem darum gehen, das Rehabilitationssystem in der Ukraine selbst auf- beziehungsweise auszubauen.

Hierfür werden einerseits finanzielle Ressourcen, aber auch Know-how gebraucht werden. Ich halte es für dringlich, hierfür schon jetzt Konzepte zu entwickeln. Hierzu sollten sich Verantwortliche aus der Politik, aus dem Rehabilitationssektor, aber auch aus den Fachverbänden möglichst kurzfristig zusammenfinden.

Dabei müssen die Aktivitäten international abgestimmt werden, zum Beispiel mit anderen europäischen Ländern, die Hilfe leisten wollen und können, aber auch mit internationalen Organisationen, wie dem Internationalen Roten Kreuz und Nichtregierungsorganisationen.

fos

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