Medizin

Diese neurologischen Störungen können auch noch zwei Jahre nach COVID-19 bestehen

  • Freitag, 19. August 2022
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Psychiatrische und neurologische Erkrankungen traten nach einer SARS-CoV-2-Infektion unterschiedlich häufig auf. /JEGAS RA, stock.adobe.com

Oxford/Berlin – Das Risiko für kognitive Defizite, Demenz, psychotische Störungen, Epilepsie oder Krampfan­fälle bleibt bei COVID-19-Patienten selbst 2 Jahre nach der Infektion leicht erhöht im Vergleich zu anderen Atemwegserkrankung. Das berichten britische Forschende in The Lancet Psychiatry (2022; DOI: 10.1016/S2215-0366(22)00260-7) nach Auswertung der Krankenakten von etwa 2,5 Millionen Patienten.

Die gute Nachricht: Die Risiken für die häufigsten psychiatrischen Störungen kehrten nach 1 bis 2 Monaten auf den Ausgangswert zurück: Gemütsstörungen, wie etwa Depressionen, nach 43 Tagen, Angststörungen nach 58 Tagen.

Anschließend erreichten sie eine Gesamtinzidenz wie in der Vergleichsgruppe: Gemütsstörungen nach 457 Tagen, Angststörungen nach 417 Tagen. Nach 2 Jahren lag die Inzidenz für Gemütsstörungen bei Kindern bei etwa 650 pro 10.000, bei Erwachsenen erreichte sie einen Wert von etwa 1.100 pro 10.000 und bei älteren Menschen ab 65 Jahren lag die Inzidenz bei etwa 920. Angststörungen erreichten abhängig vom Alter Inzi­den­zen von 1.000 und 1.800.

Erstautorin Maxime Taquet von der University of Oxford und ihre Kollegen schluss­folgern: „Die retrospektive 2-Jahres-Analyse zeigt, dass die erhöhte Inzidenz von Gemüts- und Angststörungen vorübergehend ist und es insgesamt nicht zu einem Überschuss dieser Diagnosen im Vergleich zu anderen Atemwegserkrankungen kommt.“

Für die Altersgruppe unter 18 Jahren gab die Analyse zudem Entwarnung: In den 6 Monaten nach der SARS-CoV-2-Infektion hatten sie kein erhöhtes Risiko für Gemüts- (Hazard Ratio 1,02 [95-%-Konfidenzintervall 0,94-1,10]) oder Angststörungen (HR 1,00 [95-%-KI 0,94-1,06]).

Es sei eine gute Nachricht, dass bei Kindern kein Übermaß an Depressions- und Angstdiagnosen nach COVID-19 beobachtet werden konnte, so Letztautor Paul Harrison von der University of Oxford.

Die meisten Risiken blieben über 6 Monate hinaus erhöht

Die schlechte Nachricht: Die Risiken für die meisten der untersuchten Erkrankungen waren auch nach Ablauf von 6 Monaten noch erhöht. Ausnahmen bildeten nur Enzephalitis, Guillain-Barré-Syndrom, Nerven-, Nerven­wurzel- und Plexuserkran­kungen sowie Parkinson, deren Hazard Ratios (HRs) nicht mehr signifikant über 1 lagen.

Doch die Dauer der Risikoerhöhung und wie viel Zeit verging, bis die Inzidenz in beiden Kohorten wieder vergleichbar war, variierten stark. Das Risiko für kognitive Defizite (einschließlich Bewusstseinstrübungen beziehungsweise Brain Fog), Demenz, psychotische Störungen und Epilepsie oder Krampfanfälle war am Ende der 2-jährigen Nachbeobachtungszeit immer noch leicht erhöht.

Die Studie ergab, dass bei Patienten im mittleren Alter von 18 bis 64 Jahre die Inzidenz für kognitive Defizite 2 Jahre nach einer COVID-19-Infektion bei 6,39 % (95-%-KI 5,88-6,89) lag und in der Kontrollgruppe mit anderen Atemwegserkran­kungen nur 5,50 (5,12-5,88) betrug.

Bei Erwachsenen älter als 65 Jahre lag die Inzidenz einer Demenz bei 4,46 % (95-%-KI 4,19-4,73) nach einer COVID-19-Infektion und bei 3,34 % (3,08-3,61) nach anderen Atemwegsinfektion. Das entspricht 446 Fällen pro 10.000 versus 334.

Maxime Taquet von der University of Oxford kommentierte: „Es ist klar, dass es sich nicht um einen Tsunami von Fällen handelt.“ Aber angesichts der schwerwiegenden Folgen einer Demenzdiagnose könne man diese Zahlen nur schwer ignorieren.

Für einige Erkrankungen haben Kinder ein höheres Risiko

Dabei unterschieden sich auch hier die Risikoverläufe nach der COVID-19-Erkrankung bei Kindern im Ver­gleich zu Erwachsenen. Kinder hatten nach 6 Monaten ein erhöhtes Risiko für kognitive Defizite, Schlaflosig­keit, intrakranielle Blutungen, ischämische Schlaganfälle, Nerven-, Nervenwurzel- und Plexuserkrankungen, psychotische Störungen und Epilepsie oder Krampfanfälle (HRs zwischen 1,20 [95-%-KI 1,09-1,33] und 2,16 [95-%-KI 1,46-3,19]).

Anders als bei den Erwachsenen hatten die kognitiven Defizite bei den Kindern aber einen finiten Risiko­horizont (75 Tage) und eine finite Zeit bis zur gleichen Inzidenz wie in der Vergleichsgruppe (491 Tage). Nach 2 Jahren waren nur noch bei einzelnen Krankheiten erhöhte Inzidenzen in der COVID-Gruppe verglichen mit der Kontrollgruppe sichtbar.

In absoluten Zahlen bedeutet das bei Kindern, dass 263 von 10.000 innerhalb von 2 Jahren nach einer COVID-19-Infektion an Epilepsie erkrankten, verglichen mit 126 von 10.000 nach anderen Atemwegsinfektionen. Muskelerkrankungen traten bei 11 von 10.000 in der COVID-Gruppe auf und bei fast 6 in der Kontrollgruppe. 18 von 10.000 entwickelten eine psychiatrische Störung in den 2 Jahren nach der COVID-Infektion, in der Kontrollgruppe waren es 6.

„Kinder haben insgesamt ein günstigeres psychiatrisches Risikoprofil als Erwachsene“, ergänzen die Autoren. Aber ihr persistierend höheres Risiko für einige Diagnosen sei besorgniserregend.

Ab Delta stieg das Risiko an

Vor und kurz nach dem Aufkommen der Alpha-Variante von SARS-CoV-2 (n=47.675 in beiden Kohorten) waren die Risikoprofile noch vergleichbar. Doch kurz nach (vs. kurz vor) dem Aufkommen der Delta-Variante (n = 44.835 in beiden Kohorten) waren erhöhte Risiken für ischämische Schlaganfälle, Epilepsie oder Krampfan­fälle, kognitive Defizite, Schlafstörungen und Angststörungen zu beobachten.

Dies ging mit einer erhöhten Sterberate einher. In der Omikron-Welle (n=39.845 in beiden Kohorten) war eine niedrigere Sterberate im Vergleich zu kurz vor dem Aufkommen der Variante zu beobachten, doch die Risiken für neurologische und psychiatrische Erkrankungen blieben gleich.

Dass sich die neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen zwischen Delta- und Omikron-Welle nicht wirklich unterschieden, deute darauf hin, dass sich die Belastung des Gesundheitssystems fortsetzen werde – selbst bei Varianten von SARS-CoV-2, die in anderer Hinsicht weniger gefährlich seien, so die Autoren.

Jonathan Rogers und Glyn Lewis vom University College London, die nicht an der Studie beteiligt waren, schreiben in einem Kommentar, ebenfalls in The Lancet Psychiatry (2022; DOI: 10.1016/S2215-0366(22)00302-9): „Dies ist die 1. Studie, die versucht, einen Teil der Unterschiedlichkeit anhaltender neurologischer und psychiatrischer Aspekte von COVID-19 in einem großen Datensatz zu untersuchen.“

Die Studie sei vor allem wegen der enormen Zahl an Patienten, der Kontrollgruppe und dem langen Beob­achtungszeitraum von 2 Jahren relevant, sagte Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).

Eingeschränkt werde die Aussagekraft allerdings dadurch, dass der Schweregrad der Atemwegserkrankungen in der Kontrollgruppe nicht berücksichtigt worden sei. Ein erhöhtes Risiko für eine Demenz bei COVID-19-Patienten gebe die Studie nicht her.

„Es ist bekannt, dass eine latente Demenz häufig durch ein schwerwiegendes Ereignis, etwa eine COVID-19-Erkrankung, manifest wird, ohne dass es einen ursächlichen Zusammenhang gibt“, betont der Neurologe.

Auch Paul Garner, emeritierter Professor für Evidenzsynthese in der Globalen Gesundheit an der Liverpool School of Tropical Medicine, erklärte:

„Die COVID-19-Pandemie hat in unserer Gesellschaft zu Stress geführt – nicht nur durch die virusbedingten Erkrankungen, sondern auch durch Störungen des täglichen Lebens und Angst, was ein neuartiges Virus uns antun kann. Ich denke, die kleinen Zunahmen bei Demenz und Psychose müssen vorsichtig interpretiert werden. Diese sind meiner Meinung nach eher mit dem gesellschaftlichen Aufruhr und der Dystopie, die wir durchlebt haben, assoziiert, als eine direkte Folge der Virusinfektionen.“

Ursache und Wirkung ungeklärt

Andererseits gibt es potenzielle biologische Mechanismen, die eine kausale Beziehung erklären würden:

„Der wahrscheinlichste Mechanismus ist eine maladaptive Reaktion des Wirts – sowohl der angeborenen als auch der adaptiven Immunantwort – die zu einer nachhaltigen neurologischen Schädigung führen kann, die sich durch erhöhte Biomarker für Hirnschädigung, speziell Tau, zeigt“, kommentiert David Menon, Direktor der Klinik für Anästhesie an der University of Cambridge, der selbst an den kognitiven Folgen von COVID-19 forscht, die Studienergebnisse.

Ob die beobachteten erhöhten Risiken für psychiatrische und neurologische Erkrankungen auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen sind oder vielmehr die Folge der mit einer weltweiten Pandemie verbunde­nen Belastung sind, kann die Studie nicht abschließend beantworten.

Das Team um Harrison und Taquet von der University of Oxford verwendete Daten aus den USA, Großbritan­nien, Spanien, Bulgarien, Australien, Indien, Malaysia und Taiwan. Bei dem Abgleich achteten sie darauf, dass die Gruppe der COVID-Patienten und die Kontrollgruppe mit anderen Atemwegserkrankungen im Hinblick auf Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft und andere Merkmale ähnlich waren. Die COVID-Erkrankungen waren zwischen Januar 2020 und April 2022 diagnostiziert worden.

Die Autoren räumen jedoch ein, dass wegen der Datenbasis COVID-19-Fälle mit geringen oder keinen Symp­tomen unterrepräsentiert sein könnten. Nicht berücksichtigt wurde außerdem, wann die neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen erstmals diagnostiziert wurden und wie schwer die Fälle waren.

Auch könnten in den Patientenakten Informationen über COVID-Erkrankungen oder über Impfungen gegen das Coronavirus fehlen, was die Ergebnisse verzerren könnte, räumt das Team weiter ein.

gie/nec/dpa

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