Politik

Drosten: Schwierige Pandemie­phase für politische Entscheidungen

  • Donnerstag, 27. Mai 2021
Christian Drosten /picture alliance, Michael Kappeler, dpa-Pool
Christian Drosten /picture alliance, Michael Kappeler, dpa-Pool

Berlin – Angesichts einer zunehmend schwierigen Deutung der Pandemieentwicklung hat der Berliner Virologe Christian Drosten für vorsichtiges politisches Handeln plädiert. Vorhersagen würden angesichts zunehmender Impfungen immer schwieriger, die Politik müsse mit ge­wissem Augenmaß und gewisser Vorsicht fahren, sagte der Leiter der Virologe an der Charité bei einer Anhörung im Parlamentarischen Begleitgremium COVID-19-Pandemie des Bundestags.

Maßnahmen der Kontaktreduktion seien wirksam, man solle aber nicht zu viel auf einmal zurückneh­men. „Das kann sonst zurückschlagen.“ Bei wieder steigenden Inzidenzen (Fallzahlen pro 100.000 Ein­wohner) stelle sich künftig die Frage, was das bedeutet – denn die dahinterstehende Krankheitslast in der Bevölkerung werde mit der Zeit durch die zunehmenden Impfungen immer weiter reduziert.

„Das ist jetzt eigentlich eine der schwierigsten Phasen überhaupt für die Politik, das Ganze zu navigie­ren“, sagte Drosten. In Deutschland sei der Impffortschritt zwar noch nicht so groß wie in Großbritan­nien. Bei Menschen über 70 Jahren, die ein höheres Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben, sei der Fortschritt aber schon recht ausgeprägt.

Drosten sieht vor diesem Hintergrund Modellierungen, die über den Winter wichtige Grundlagen für das Ergreifen von Maßnahmen gewesen seien, zunehmend erschwert. Schon länger gibt es Vorschläge von Experten, künftig weniger auf die Sieben-Tage-Inzidenzen und mehr auf Klinikeinweisungen wegen CO­VID-19 oder auf die Inzidenzen bei Menschen ab 60 Jahren zu blicken. Krankenhausaufnahmen seien allerdings nach seiner Kenntnis bisher nicht meldepflichtig, sagte Drosten.

Er regte an, erst bei einem größeren Schutz der Risikogruppen durch Impfung, etwa nach dem Sommer, beim Blick auf die Parameter einen fließenden Übergang einzuleiten. Eine Zeit lang könnten etwa Neu­in­fektionen und Neuaufnahmen parallel erhoben werden, um sich abzusichern. Bisher habe die gemel­dete Inzidenz aber die Krankheitslast sehr gut vorausgesagt, betonte Drosten.

Auf lange Sicht rechnet der Virologe damit, dass sich das Virus wie ein Erkältungscoronavirus verhalten werde. In den kommenden zwei bis vier Jahren seien Übergangszustände zu erwarten – das Virus werde Impflücken nutzen. Politisches Nachtarieren werde künftig beinhalten, dass ab einer gewissen Verringe­rung der Krankheitslast auch mehr Infektionen toleriert werden könnten. Die Frage sei, wie weit das gehen könne und wie intensiv man dies mit PCR-Tests verfolgen wolle.

Für eine genaue Analyse plädierte auch die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Man solle genau auf die Variante B.1.617.2 schauen, sagte sie in der Anhörung. Sie sehe eine Gratwanderung zwischen dem Impffortschritt und der Ausbreitung der Variante.

Angesichts des aktuell berichteten Anteils von zwei Prozent werde es bis zu fünf Wochen oder vielleicht auch länger dauern, bis die Variante auch in Deutschland anfange, die Fallzahlen wieder hoch zu brin­gen. Bis dahin gebe es noch nicht genug Impfschutz, um eine Belastung der Intensivstationen auszu­schließen.

Andere Experten mahnten in der Anhörung vor allem die unklare Datenlage an und forderten bessere Forschung. Die Wissenschaftler können sich in Deutschland derzeit oftmals nur auf Daten aus Groß­bri­tannien berufen, es gäbe keine Querschnittsstudien oder andere Instrumente in Deutschland, die ähnli­ches liefern könnten.

Dazu gehöre auch die Frage, warum es in einigen Regionen ein Hotspot-Geschehen gegeben habe, er­klärte Petra Dieckmann vom Uniklinikum Jena. So sei beispielsweise die Frage nicht geklärt, warum vor allem in kleineren Orten das Infektionsgeschehen so intensiv gewesen sei, allerdings in Metropolregio­nen oftmals nicht. Auch dafür fehlten Daten.

Die Leiterin des Gesundheitsamtes in Gütersloh, Anke Bunte, erklärte aber, dass man dafür auch fest­stellen müsse, ob in Großstädten ähnlich intensiv Kontakte nachverfolgt werden wie in kleineren Städ­ten. Auch daher könnten Verzerrungen entstehen.

Christine Klein, amtierende Past-Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und Direktorin des Institutes für Neurogenetik der Uni Lübeck, berichtete aus ihrer Elisa-Studie, bei der seit März 2020 Daten von mehr als 3.000 Menschen in der Hansestadt erhoben worden sind.

Dabei wurden in der Kohorte die Teilnehmenden regelmäßig per PCR-Test sowie Antikörpertests unter­sucht. Ebenso wurden Fragebögen eingesetzt. Klein berichtete, dass im März 2020 die Dunkelziffer der Erkrankungen noch bei etwa 90 Prozent lagen, zwölf Monate später war es noch 30 Prozent.

Sie verwies darauf, dass sie in der Studie eine hohe Teilnahmerate beobachten konnten: Mit 75 bis 98 Prozent hätten „weit über durchschnittlich“ viele Menschen an der Studie teilgenommen. „Es gibt ein hohes Interesse der Bevölkerung an Studienteilnahmen, das sollten wir nutzen.“

Ute Teichert vom Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes erklärte erneut, dass niedrige Inzidenzen nicht bedeutet, dass die Gesundheitsämter weniger zu tun hätten: Denn sobald mehr Aktivitäten möglich seien, hätten einzelne Personen mehr Kontakte, die nachverfolgt wer­den müssten. So könne die Arbeit auch in Zeiten von niedrigen Inzidenzen deutlich steigen.

Markus Hoffmann vom Deutschen Gewerkschaftsbund forderte, dass Betriebe ihre Betriebsärzte besser in die Hygienekonzepte einbeziehen sollten. Seinen Angaben nach wurden nur in etwa 40 Prozent der Betriebe Ärzte bei der Erstellung der Konzepte konsultiert.

dpa/bee

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