Ärzteschaft

Ethische Leitlinien der Humanforschung im Wandel

  • Freitag, 21. November 2025
/Paulista, stock.adobe.com
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Berlin – Ethische Leitlinien sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Humanforschung. Doch auch sie müssen sich an veränderte wissenschaftliche, technologische und gesellschaftliche Bedingungen anpassen. Sie sollen sicherstellen, dass einerseits die Rechte, Sicherheit und Würde der Teilnehmenden gewahrt bleiben und andererseits gleichzeitig wissenschaftlicher Fortschritt ermöglicht wird. Dazu ist eine kontinuierliche Überprüfung ethischer Maßstäbe notwendig – diesbezüglich waren sich gestern die Teilnehmenden der 43. Jahrestagung des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e. V. (AKEK) einig.

„Ethische Richtlinien sind keine statischen Gebilde“, betonte Georg Schmidt, Vorsitzender des AKEK. „Sie müssen sich im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem Fortschritt, technologischem Wandel und den berechtigten Erwartungen der Gesellschaft an Sicherheit, Transparenz und ethische Integrität immer wieder neu bewähren.“

Besonders deutlich wird dies mit Blick auf sogenannte Human-Challenge-Studien, bei denen Gesunde gezielt mit Krankheitserregern infiziert werden. Viele unethische Experimente, die während der NS-Zeit stattfanden, hätten sich tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben, sagte Leif Erik Sander von der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Dennoch könnten heutzutage kontrollierte Infektionsstudien an Freiwilligen einen großen Nutzen haben, beispielsweise wenn Tiermodelle fehlten oder inadäquat seien. Mit ihnen ließen sich zudem schon frühzeitig Risiken erkennen und schneller Impfstoffe entwickeln. Voraussetzungen seien eine gute Aufklärung und wirksame Gegenmedikamente.  

Kritisch zeigte sich Dirk Lanzerath vom Deutschen Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE). Human-Challenge-Studien hätten in der Vergangenheit zwar die ethische Reflexion beschleunigt, jedoch oft auf schmerzhafte Weise, sagte er. Da die Durchführung solcher Studien hauptsächlich einen kollektiven Nutzen habe und es einen starken Konflikt zum Grundprinzip des ärztlichen Ethos des Nicht-Schadens gebe, müsse man sich fragen, ob der Nutzen einer Infektionsstudie tatsächlich so groß sei, um mit bewusster Infektion einen gesunden Menschen eventuell zu gefährden.

„Eine Aufgabe von Ethikkommissionen ist es nicht nur zu prüfen, ob gewisse Kriterien erfüllt sind, sondern auch, wie sie zu gewichten sind“, sagte er. Skepsis sei geboten, vor allem, wenn Studien symbolischen oder politischen Nutzen beanspruchen würden.

Auf das ärztliche Ethos ging auch Andrea Wagner, Geschäftsführende Ärztin der Ethik-Kommission der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz und Vorstandsmitglied des AKEK, ein: „Forschende Ärztinnen und Ärzte geraten generell in einen Zielkonflikt zwischen dem individuellen Wohlergehen von Menschen und dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn“, betonte sie. Forschung sei zwar erforderlich, müsse aber unter Beachtung anerkannter Rahmenbedingungen erfolgen.

„Die medizinischen Ethikkommissionen beurteilen, wie die ethischen Normen auf das konkrete Forschungsvorhaben anwendbar sind“, sagte sie. Dabei müssten verschiedene Kontexte berücksichtigt werden. Schließlich ginge es darum, das Vertrauen der Gesellschaft in die Forschung zu stärken. Geschehen könne dies am besten in ethischen Netzwerken.

Die Stärkung von Vertrauen in die Forschung war auch ein Anliegen von Hella von Unger, Professorin am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und Vorsitzende der Ethikkommission der Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Auch in den Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften fänden ethische Debatten statt und es existierten ethische Netzwerke. Die Forschung in diesen Fächern unterscheide sich aber von der medizinischen Forschung, vor allem durch eine große Methodenvielfalt.

„Medizinischen Ethikkommissionen fehlt deshalb die Expertise, solche Studien zu beurteilen“, sagte sie. Während die Medizin „Forschung am Menschen“ betreibe, gehe es in den Sozialwissenschaften in der Regel um „Forschung mit Menschen“. Diese Unterscheidung sei nicht nur sprachlich, sondern auch erkenntnistheoretisch und methodologisch relevant, betonte von Unger. Forschungsethische Herausforderungen der Sozialforschung könnten ohne entsprechende sozialwissenschaftliche Expertise nicht angemessen beurteilt werden. Auch sei Forschungsethik kein Monopol der Medizin. Vielmehr müsse die Eigenverantwortung der Fächer für die Bearbeitung forschungsethischer Fragen respektiert werden.

Forschungsethik lebe vom konstruktiven Austausch, betonte Ramin Parsa-Parsi, Leiter des Dezernats Internationale Angelegenheiten der Bundesärztekammer (BÄK). Er begleitete die aktuelle Revision der Deklaration von Helsinki. Diese formuliert weltweit geltende ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen und schützt vulnerable Gruppen, wie Kinder, Jugendliche und nicht einwilligungsfähige Erwachsene.

Diese Gruppen beziehungsweise das mit ihrem Schutz einhergehende Dilemma hätten bei der jüngsten Revision 2024 insbesondere im Fokus der Abwägungen von Fachleuten aus aller Welt gestanden, erläuterte der Arzt. Die Problematik: Um Angehörigen von vulnerablen Gruppen einen besonderen Schutz zu gewähren, würden sie bislang oft nicht in klinische Studien einbezogen. Doch dies habe eine Kehrseite, so Parsa-Parsi. Oft erhielten dadurch erst später Zugang zu therapeutischen Innovationen.

ER

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