Expertenrat: Gesundheitspolitik konsequent auf Prävention ausrichten

Berlin – Der Expertenrat Gesundheit und Resilienz der Bundesregierung hat in zwei Stellungnahmen ein grundsätzliches Umdenken in der Gesundheitspolitik gefordert: Nicht die Behandlung von Krankheiten solle mehr im Fokus stehen, sondern das Gesunderhalten der Bürger.
„Wir plädieren für einen Paradigmenwechsel hin zu einem umfassenden Gesundheitsverständnis, das über eine reine Krankheitsfokussierung hinausgeht“, heißt es in der Stellungnahme Gesundheit: Ganzheitlich denken, vernetzt handeln. Maßnahmen zum Schutz und Erhalt von Gesundheit müssten deshalb sowohl den einzelnen Menschen als auch die Bevölkerung beziehungsweise Bevölkerungsgruppen adressieren.
„Hierzu muss eine umfassend verstandene Gesundheit gesetzlich verankert werden, die als Grundlage für die Umsetzung durch alle Politikbereiche und Ressorts, Behörden und Institutionen sowie für die Bereitstellung finanzieller und personeller Ressourcen dient“, heißt es in der Stellungnahme.
„Die ganzheitliche Perspektive auf Gesundheit zielt darauf, gesunde und nachhaltige Lebenswelten zu schaffen. Dafür sind vernetztes Denken und Handeln unverzichtbar.“ Gesundheits-, Verkehrs-, Arbeits-, Sozial-, Umwelt-, Wirtschafts-, Bildungs- und Digitalpolitik als auch Raum- und Stadtplanung müssten zusammenarbeiten, um das gemeinsame Ziel der gesundheitlichen Chancengerechtigkeit zu verfolgen.
Der Expertenrat wurde im März dieses Jahres von der Bundesregierung als Nachfolgeorganisation des Coronaexpertenrats eingesetzt. Er besteht aus 23 Mitgliedern, von denen auch einige Teil des Coronaexpertenrats waren beziehungsweise Teil der Regierungskommission Krankenhaus sind.
Schlüssel zur resilienter Gesellschaft
„Ein Perspektivwechsel, der Gesundheit nicht nur als bloße Abwesenheit von Krankheit versteht, ist der Schlüssel zu einer resilienten und gerechten Gesellschaft“, kommentierte die Co-Vorsitzende des Rats, Susanne Moebus, von der Universitätsmedizin Essen, nach der Veröffentlichung der Stellungnahme.
„Aktuell verbrauchen wir enorme finanzielle und personelle Ressourcen, um Menschen zu behandeln – nur um sie in die Lebensumstände zurückzuschicken, die sie krank gemacht haben. Allein im Jahr 2021 galten in Deutschland 203.000 Todesfälle als vermeidbar. Statt immer nur die Symptome zu bekämpfen, müssen wir die Ursachen angehen. Anstatt nur Menschen mit Diabetes zu behandeln, sollten wir mehr in gesundheitsförderliche Umwelten investieren.“
Gesundheit müsse durch gezielte Rahmenbedingungen aktiv in allen Politikbereichen mitgedacht und gestaltet werden. „Denn Entscheidungen aus dem Finanz-, Wirtschafts-, Bildungs- oder Verkehrsministerium beeinflussen unsere Gesundheit unmittelbar“, betonte Moebus.
„Eine stärkere Förderung aktiver Mobilität könnte zum Beispiel sowohl Luftverschmutzung reduzieren als auch Diabetes verhindern. Wir müssen die gesunde Wahl zur einfachen Wahl machen. Hierfür muss Gesundheit verbindlich in unseren gesellschaftlichen Normen und Gesetzen verankert werden. Denn eine gesunde Bevölkerung ist die beste Investition in unsere Zukunft.“
Gesundheitliche Chancengerechtigkeit
Heute unterschieden sich die Lebenswelten und Gesundheitschancen der Menschen erheblich, heißt es in der Stellungnahme: „Armut, soziale Belastungen, ungünstige Wohn- und Umweltbedingungen, mangelnder Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie fehlende Solidarität erschweren die Verwirklichung von Gesundheit im Alltag.“
Deshalb müsse besonderes Augenmerk auf die Verbesserung der gesundheitlichen und umweltbezogenen Chancengerechtigkeit gelegt werden. Die aktive Beteiligung der Menschen in ihren Lebenswelten sei dabei unverzichtbar.
„Gesunde Menschen bilden die Grundlage für eine produktive, innovative und resiliente Gesellschaft“, heißt es weiter. „Sie können länger aktiv am Leben teilnehmen, Krisen bewältigen sowie zur gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung beitragen.“ Gesamtgesellschaftlich führe bessere Gesundheit zu geringeren Krankheitskosten, einer bedarfsgerechten Anzahl an Fachkräften und weiterreichenden Effekten wie starken sozialen Gemeinschaften.
Konsequent auf Prävention setzen
Die zweite Stellungnahme des Expertenrats befasst sich mit der Stärkung der Resilienz des Versorgungssystems durch Präventionsmedizin. „Der Krankenstand in Deutschland ist auf einem historischen Höchststand. Gleichzeitig steht das Gesundheitssystem durch den demografischen Wandel, Fachkräftemangel und steigende Kosten vor enormen Herausforderungen.
Die Antwort kann nur sein, konsequent auf mehr Prävention und Gesundheitsförderung zu setzen“, betonte Wolfgang Hoffmann von der Universitätsmedizin Greifswald, Koordinator der Stellungnahme. „Alle Bevölkerungsgruppen müssen von Präventionsmedizin profitieren können. Denn sie verbessert die Gesundheit und Lebensqualität der Patienten und stärkt die Resilienz des Versorgungssystems. Hier ist in Deutschland noch Luft nach oben.“
Es brauche individualisierte Präventionsangebote, die jeden einzelnen gezielt ansprechen. „Das klappt nur mit gezielter Kommunikation und einem guten Monitoring“, erklärte Hoffmann.
„Denn die Maßnahmen müssen dort ankommen, wo sie sollen und dort auch wirksam sein. Ob das gelingt, müssen wir mit geeigneten Methoden untersuchen. Nur evidenzbasierte Präventionsmedizin ist effektiv, nachhaltig und wirtschaftlich. Deshalb müssen sowohl die Grundlagenforschung als auch die Versorgungsforschung gestärkt werden.“
Vergütung ärztlicher Präventionsgespräche
In der Stellungnahme wird darauf hingewiesen, dass mit dem demografischen Wandel auch ein Wandel der Morbidität einsetze. „Über die nächsten 20 bis 30 Jahre werden ohne mehr Prävention immer mehr Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs, Depressionen und Demenz erkranken, auch die Häufigkeit (nosokomialer) Infektionen steigt“, heißt es darin.
„Gleichzeitig wächst der Anteil der Bevölkerung, der an mehreren Erkrankungen gleichzeitig leidet. Hinzu kommen viele Menschen, deren Erkrankungen chronisch werden.“ Durch diese altersbedingte Multimorbidität werde die medizinische und pflegerische Versorgung aufwändiger und für das Solidarsystem teurer. Dem steigenden Bedarf an qualifiziertem Personal stehe ein zunehmender Fachkräftemangel gegenüber.
In Deutschland würden häufig kurative Maßnahmen, die auf die Heilung einer Erkrankung ausgerichtet sind, priorisiert, während Gesundheitsförderung und Prävention eine nachrangige Bedeutung hätten. „Durch deren konsequente Förderung könnten im Gesundheitssystem erhebliche Kosten eingespart werden“, heißt es in der Stellungnahme.
„Hieraus ergibt sich ein Potential für gesundheitsökonomische Anreizsysteme auf der Ebene der Leistungserbringer, beispielweise eine Vergütung ärztlicher Präventionsgespräche.“ Auch auf der Patientenebene seien Incentivierungen, beispielsweise im Rahmen von individuellen Zielvereinbarungen und durch Bonusregelungen, möglich.
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