Ärger um Versorgung mit Diphtherie-Antitoxin

Berlin – In Deutschland gibt es Ärger um die Versorgung mit Diphtherie-Antitoxin. Das geht aus einem Brief des Leiters des Zentrums für Kinderheilkunde und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Klaus-Peter Zimmer, an das Gesundheitsministerium in Hessen hervor. Das Schreiben vom 6. Februar liegt dem Deutschen Ärzteblatt vor.
„Nach meinen Informationen scheint für die Akutbehandlung einer klassischen Diphtherie, einer Erkrankung mit sehr hoher Letalität, der Behandlungsstandard in Hessen (Deutschland) nicht gewährleistet zu sein“, schreibt Zimmer, an Hessens Gesundheitsminister Kai Klose.
Die Probleme stellten einen zusätzlichen Grund dar, Kinder gegen Diphtherie impfen zu lassen. Er fühle sich darüber hinaus verpflichtet, auch seine Kollegen über den bestehenden Versorgungsengpass zu informieren, so Zimmer.
Der Leiter des Zentrums für Kinderheilkunde und Jugendmedizin berichtet in dem Brief an Klose von einem einjährigen Jungen mit Verdacht auf Diphtherie, der bisher keine Impfung erhalten hatte. Für die Therapie habe man sich über die Krankenhausapotheke „mit den Notfalldepots bundesweit in Verbindung“ gesetzt.
Antitoxinpräparate seit 2014 abgelaufen
Erhalten habe man sechs Antitoxinpräparate aus dem Notfalldepot in Bayern – drei Ampullen aus Deckendorf und drei Ampullen aus Regensburg. „Die bayrische Landesapothekenkammer, teilte mit, dass diese sechs in Kroatien hergestellten Ampullen mit einem Verfallsdatum zum 31.03.2014 bereits abgelaufen sind“, heißt es in dem Brief.
Die Anwendung des Diphtherietoxinserums, das aus Pferdeserum besteht, ist Zimmer zufolge mit dem Risiko einer allergischen Reaktion von bis zu 20 Prozent behaftet. Er vermutet, dass das Risiko einer Nebenwirkung beim vorliegenden Verfallsdatum höher zu bewerten sei.
„Wir haben uns in diesem Kontext letztlich gegen eine unmittelbare Applikation der abgelaufenen Seren, die angeblich letztes Jahr noch als positiv wirksam getestet wurden, entschieden“, erklärte Zimmer. Letztlich habe die Mikrobiologie bei dem betroffenden Kind neben anderen Keimen Corynebacterium pseudodiphtheriticum nachgewiesen, das nicht Diphtherietoxin bildend sei.
In Anbetracht der Möglichkeit, dass aufgrund des regen Reiseverkehrs und der zum Teil unbefriedigenden Durchimpfungsraten weitere Diphtherie-Verdachtsfälle durchaus möglich seien, bitte er das Ministerium zu prüfen, ob Handlungsbedarf besteht, schreibt Zimmer an Klose.
Zimmer betont, das vom Robert-Koch-Institut (RKI) für Diphtherie beauftragte Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) Bayern habe ihm gegenüber den Missstand beim Diphtherie-Antitoxin bestätigt. Dort hieß es, eine Abhilfe werde seit Jahren auch vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) angemahnt. Das PEI stellte auf eine heutige Anfrage des Deutschen Ärzteblattes für morgen eine Stellungnahme in Aussicht.
Einer E-Mail der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände zufolge, die dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt, wissen auch die Landesministerien sowie das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) „über den seit mehreren Jahren andauernden Missstand Bescheid“.
Nach Informationen des Deutschen Ärzteblattes hat das BMG bereits seit dem Jahr 2013 Kenntnis von der Versorgungslücke. Aus gut informierten Kreisen heißt es, die ABDA habe das Ministerium bereits mehrfach um rechtliche Klärung gebeten, auf welchem Wege man die Versorgungssicherheit in Notfällen bei Diphtherie aufrecht erhalten solle.
Hintergrund ist, dass es weltweit nur drei mögliche Produktionslinien gibt. Japan produziert, hat aber einen Exportstopp, wie es aus Fachkreisen heißt. Die Chargen aus Kroatien, die in Deutschland eingelagert worden waren und fast alle aufgebraucht sind, sind sämtlich am 31.3.2014 abgelaufen. Eine russische Produktionslinie mit dem Antitoxin, die im März 2019 von verschiedenen Apothekerkammern geordert worden war, enthält eine zu geringe Dosierung des Wirkstoffs.
Problem auf Apotheker und Ärzte verlagert
Das hat derzeit zur Folge, dass die beiden in Deutschland verfügbaren Diphtherie-Antitoxine beide nicht verkehrsfähig sind. Heißt: Sie dürften eigentlich nicht abgegeben werden. Bei einer Abgabe und Verwendung muss ein rechtfertigender Notstand vorliegen.
Für den Apotheker bedeutet das, er muss prüfen, ob es gerechtfertigt ist, das Mittel abzugeben. Für den Arzt, ob es im speziellen Fall eingesetzt werden sollte. Die Verantwortung liegt beim Arzt und Apotheker. Das BMG hat eine rechtliche Hilfestellung zu der Frage, welches Mittel eingesetzt werden darf, bislang abgeblockt und den Fall weggeschoben.
„Wir versuchen hier als Berufsverband die Kollegen in den Kammern zu unterstützen und irgendwie sicherzustellen, dass für den Notfall überhaupt ein Antitoxin-Präparat zur Verfügung steht“, heißt es daher auch in der E-Mail einer ABDA-Apothekerin. Dabei habe man zwei Möglichkeiten, nämlich nicht verkehrsfähige Arzneimittel abzugeben oder den Versorgungsauftrag nicht zu erfüllen.
„Bei einem Patienten, der tatsächlich an Rachendiphtherie erkrankt ist, besteht jedoch eine große Wahrscheinlichkeit, die Erkrankung ohne Antitoxin nicht zu überleben“, schreibt die Apothekerin in der E-Mail.
Sie betonte zugleich, es gebe seit einiger Zeit auf europäischer Ebene ein Programm (Joint-Procurement-Programm), das den Bedarf der Länder in Europa an Diphtherie-Antitoxin und Botulismus-Antitoxin bündele und versuche, einen Hersteller zu finden, für den es sich bei einer größeren Bestellung lohnen könnte, die Antidota zu produzieren. „Ergebnisse gibt es vielleicht in diesem Jahr. Solange kann man nur allen Patienten empfehlen, auf einen ausreichenden Impfschutz gegen Diphtherie zu achten“, erklärte die ABDA-Apothekerin.
Hessen: BMG wusste seit Jahren Bescheid
Aus dem Gesundheitsministerium in Hessen heißt es auf Anfrage, es sei bekannt, dass das Medikament zurzeit auf dem Weltmarkt nicht verfügbar sei und es seit mehreren Jahren Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Diphtherie-Antitoxin gibt. Man verfolge die Versorgungssituation fortlaufend und setze sich auch auf Bundesebene dafür ein, diesem Engpass zu begegnen, sagte eine Sprecherin.
Sie wies darauf hin, dass der Versorgungsmangel mit Diphtherie-Antitoxin bereits 2015 auf der Gesundheitsministerkonferenz thematisiert worden sei. Man habe damals eine große Sorge über die Versorgungslage im europäischen Raum geäußert. Damals sei die Bundesregierung von der Gesundheitsministerkonferenz gebeten worden, „kurzfristig auch auf europäischer Ebene Lösungswege zu entwickeln, um dem aktuellen Versorgungsmangel konkret begegnen zu können“.
„Das Thema der Versorgungsengpässe mit lebensnotwendigen Medikamenten wurde wiederholt an die Bundesebene herangetragen“, so die Sprecherin weiter. 2018 sei das BMG von der Gesundheitsministerkonferenz gebeten worden zu prüfen, inwieweit eine Notwendigkeit gesetzlicher Änderungen oder anderer Maßnahmen besteht.
Das Bundesministerium für Gesundheit wollte sich auf Anfrage des Deutschen Ärzteblattes heute zunächst nicht äußern und verwies auf das PEI. Auch auf Nachfrage, seit wann das Ministerium von der Misere weiß – und was es dagegen unternommen hat, gab es bislang keine Antwort.
Eine positive Entwicklung gibt es allerdings. Wie das Deutsche Ärzteblatt erfuhr, soll das PEI seine Testmethode für das Diphtherie-Antitoxin verändert haben. Demnach seien die neuen Chargen aus russischer Produktion nicht mehr unterdosiert. Damit könnte in Zukunft wieder ein legales, verkehrsfähiges Arzneimittel zur Verfügung stehen. Allerdings nur, solange die russische Produktion – wie zuletzt die kroatische – nicht eingestellt wird.
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